Haiti Erst das Beben, dann die Banden
Vor genau 15 Jahren wurde Haiti vom schwersten Beben in der Geschichte Nord- und Südamerikas erschüttert. Mehr als 200.000 Menschen starben, fast zwei Millionen wurden obdachlos. Heute versinkt das Land in Chaos und Gewalt.
Annalisa Lombardo war seit eineinhalb Jahren für eine Hilfsorganisation in Haiti, als die Erde bebte. Sie erinnert sich genau an den Tag: "Mein Gehirn hat alle Geräusche ausgelöscht. Während des Bebens war Stille in meinem Kopf. Ich erinnere mich nur an die Bewegungen. In dem Moment habe ich wirklich nicht das Ausmaß des Bebens begriffen."
Die Hilfe lief sofort an. Ein erstes Koordinierungstreffen für den Gesundheitsbereich fand auf einer Basis der damaligen UN-Mission statt. Vier bis fünf Leute seien dabei gewesen, etwa vom Gesundheitsministerium oder von der Weltgesundheitsorganisation. Man habe sich mehr oder weniger gekannt, habe Französisch gesprochen.
"Am Tag danach waren schon mehr als 100 Leute bei dem Treffen, die Arbeitssprache wechselte automatisch zu Englisch", erzählt Lombardo. Dadurch hätten sich die haitianischen Vertreter ausgeschlossen gefühlt.
200.000 Tote, zwei Millionen Obdachlose
Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen startete den größten Einsatz in ihrer Geschichte, erzählt Jean-Marc Biquet, Landeskoordinator in Haiti: "Zuerst mussten wir all die Verwundeten behandeln, die aus den eingestürzten Gebäuden gerettet wurden. Es ging vor allem um operative Versorgung und Nachsorge. Es hat Monate gedauert, bis alle Verwundeten versorgt waren."
Es wird davon ausgegangen, dass mehr als 200.000 Menschen bei dem schweren Beben ums Leben kamen. Weitere Hunderttausende wurden verletzt, fast zwei Millionen wurden obdachlos. Sie mit Essen und sauberem Wasser zu versorgen, wurde schnell zu einer weiteren Herausforderung.
Heute plagt Gewalt das Land
Heute muss Ärzte ohne Grenzen in Haiti ganz andere Arten von Wunden versorgen: "Da sind die Autounfälle oder Schusswunden, denn seit einer ganzen Weile gibt es ein hohes Level an Gewalt in der haitianischen Gesellschaft", erklärt Biquet.
Auch die Hilfsorganisation selbst sieht sich Angriffen ausgesetzt. Im November wurde ein Ambulanzwagen von der Polizei stundenlang unter Todesdrohungen festgehalten, die Patienten getötet. Der Vorwurf der Polizei: Die Hilfsorganisation würde Banditen versorgen und so die Gangs unterstützen. Bewaffnete Banden kontrollieren inzwischen große Teile der Hauptstadt Port-au-Prince.
Ärzte ohne Grenzen stellte zwischenzeitlich die Arbeit dort ein. Mittlerweile hat die Organisation sie wieder aufgenommen, verzichte aber noch auf Krankentransporte, so Biquet. "Es scheint der schwächste Punkt in unserem System zu sein. Beim Patiententransport können auch unsere Mitarbeiter von irgendjemand festgenommen werden."
Annalisa Lombardo, heute Landesdirektorin der Welthungerhilfe in Haiti, sagt, die grundlegenden Menschenrechten könnten nicht mehr gewährleistet werden. Die Menschen "sind physisch nicht sicher, ihre Möglichkeiten, sich ihr täglich Brot zu verdienen, werden durch die Unsicherheit beeinträchtigt". Krankenhäuser würden von den Gangs abgebrannt.
Politische Instabilität
Dazu kommt die politische Instabilität. Das Land wird von einem aus rivalisierenden Parteien zusammengesetzten Übergangsrat regiert, der Wahlen für dieses Jahr organisieren sollte - die letzte gab es 2016.
Eine von Kenia angeführte und vor allem von den USA finanzierte Polizeimission soll eigentlich seit Mitte letzten Jahres mehr Sicherheit bringen. Doch weniger als ein Viertel der geplanten 2.500 Kräfte sind im Einsatz.
Haiti-Experte Diego da Rin von der Nichtregierungsorganisation International Crisis Group sagt, nur mit mehr Personal und mehr Ausrüstung hätte die Mission eine Chance gegen die Gangs. Doch dafür müssten mehr Gelder zur Verfügung gestellt werden.
Da Rin spricht von zwei wichtigen Herausforderungen für Haiti: "Natürlich muss wieder etwas Normalität hergestellt werden, indem man Gebiete von den Gangs zurückgewinnt und ihre Macht reduziert. Das hat natürlich auch mit der Fähigkeit der Regierung zu tun, sich auf die politischen Ziele der Übergangszeit zu konzentrieren, statt sich in internen Kämpfen zu verlieren." Solange das nicht passiert, wird die Bevölkerung in Haiti weiter leiden.