
Istanbuls Oberbürgermeister Was steckt hinter der Festnahme von Imamoglu?
Ekrem Imamoglu gilt als größter politischer Konkurrent des türkischen Präsidenten Erdogan. Bei einer Razzia wurde der Oberbürgermeister Istanbuls festgenommen. Ihm wird Korruption vorgeworfen. Ein Überblick über die Hintergründe.
Warum wurde Imamoglu festgenommen?
Mit einem Großaufgebot hat die türkische Polizei am frühen Morgen den Oberbürgermeister Istanbuls in seinem Haus festgenommen. Offiziell werden Ekrem Imamoglu und 99 weiteren Personen aus seinem Umfeld Korruption vorgeworfen. Es gehe um Aktivitäten im Zusammenhang mit Ausschreibungen der Istanbuler Stadtverwaltung.
Imamoglu und sechs weitere Personen sollen zudem die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) unterstützt haben. Dabei geht es offenbar um einen Aufruf der sozialdemokratischen CHP und der pro-kurdischen Partei DEM bei den Kommunalwahlen zusammen zu arbeiten, um sich gemeinsam gegen die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan durchsetzen zu können. Die türkische Regierung sieht die DEM als politischen Arm der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Die Partei streitet das vehement ab.
Wird das erste Mal gegen Imamoglu ermittelt?
Auch in der Vergangenheit ist die türkische Justiz schon gegen Imamoglu vorgegangen. So belegte ihn ein türkisches Gericht 2022 mit einem Politikverbot und einer mehr als zweijährigen Haftstrafe wegen Beleidigung der Wahlkommission. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch spricht bei dem noch nicht rechtskräftigen Urteil von einem politisch motivierten Vorgehen. Es laufen weitere Prozesse gegen Imamoglu wegen verschiedener Beleidigungen von Beamten und Korruption.
Gestern war zudem bekannt geworden, dass die Istanbul-Universität ihm den Hochschulabschluss aberkannt hat. Dieser ist Voraussetzung zur Kandidatur für das Präsidentenamt. Hintergrund der Annullierung soll ein angeblich unrechtmäßiger Universitätswechsel sein. Auch 27 weiteren Personen wurde der akademische Grad laut dem TV-Sender TRT aberkannt. Auf Imamoglus Recht, das Amt des Oberbürgermeisters auszuüben, hat die Aberkennung des Abschlusses keine Konsequenzen.
Wie sind die Reaktionen auf die Festnahme?
Die CHP ist entsetzt. Kurz vor seiner Festnahme veröffentlichte Imamoglu ein Video auf der Plattform X und schrieb dazu: "Wir befinden uns im Angesicht einer großen Tyrannei." Er werde aber nicht aufgeben. Der Chef der Partei CHP, Özgür Özel, sprach von einem Putschversuch gegen einen legitim gewählten Politiker und einem entscheidenden Moment für die Zukunft der türkischen Demokratie. Das Volk solle daran gehindert werden, den nächsten Präsidenten selbst zu bestimmen. Er rief die 1,7 Millionen Partei-Mitglieder dazu auf, trotz der Verhaftung am Sonntag an der internen Spitzenkandidaten-Wahl der CHP teilzunehmen. Dort soll Imamoglu berufen werden.
Devlet Bahceli, Chef der ultranationalistischen Partei MHP und Regierungspartner Erdogans, kommentierte dagegen auf X, die türkische Justiz sei unabhängig, unparteiisch und objektiv.
In Istanbul haben sich zahlreiche Unterstützer von Imamoglu zu Protesten getroffen. International wird der Schritt verurteilt: Emma Sinclair-Webb, Direktorin von Human Rights Watch Türkei, verurteilte die Inhaftierung. Es handele sich um einen "eklatanten Missbrauch des Justizsystems".
Die Bundesregierung kritisierte die Verhaftung scharf. Der Schritt sei "ein schwerer Rückschlag für die Demokratie in dem Land am Bosporus", sagte der Sprecher des Auswärtigen Amts, Sebastian Fischer. Die Festnahme reihe sich ein "in eine Serie erhöhten juristischen Drucks" gegen Imamoglu. Für die Bundesregierung sei "die Achtung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien Grundbedingung für eine funktionierende Demokratie". Konkrete Schritte, etwa die Einbestellung des türkischen Botschafters in Berlin, kündigte Außenamtssprecher Fischer nicht an.
SPD-Chef Lars Klingbeil bezeichnete die Festnahme als "schweren Angriff" auf die Demokratie in der Türkei. Der Versuch, ihn aus dem politischen Wettbewerb auszuschalten, sei unübersehbar. "Die türkische Regierung zeigt damit, dass sie keine fairen Wahlen und keinen unabhängigen Rechtsstaat mehr will."
Landwirtschaftsminister Cem Özdemir warf Präsident Erdogan vor, Angst vor Wahlen zu haben. Er habe "Angst, zu verlieren", sagte der Grünen-Politiker gegenüber dem Spiegel. Der türkische Präsident fürchte sich vor "starken Konkurrenten wie Imamoglu, die für Freiheit und eine pluralistische Gesellschaft stehen". Erdogan verfolge ein "Autokraten-Drehbuch".
Auch der außenpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt, zeigte sich besorgt. "Es ist eine weitere Eskalation des Kampfes Erdogans gegen die Opposition, dass die Justiz sogar gegen führende Repräsentanten mit breitem Rückhalt in der Bevölkerung instrumentalisiert wird", sagte der CDU-Politiker dem Spiegel.
Die CDU-Verteidigungspolitikerin Serap Güler verglich die Verhaftung Imamoglus mit einem Staatsstreich. "Leider machen die Ereignisse wirklich große Sorge", sagte sie ebenfalls dem Spiegel. "Sie wirken wie ein Staatsstreich, um ernsthafte Konkurrenten aus dem Weg zu räumen."

Bereits am frühen Morgen zogen viele Demonstranten zum abgeriegelten Polizeipräsidium in Istanbul.
Welchen Rückhalt hat Imamoglu in der Bevölkerung?
Seit Jahren gibt es einen offenen Konflikt zwischen Imamoglu und Erdogan. 2019 gelang ihm die Wahl zum Oberbürgermeister Istanbuls - der Heimatstadt Erdogans. Ein Schlag für den türkischen Präsidenten, denn ein AKP-geführtes Istanbul ist ihm wichtig: "Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei", sagte Erdogan einst. Denn die Stadt mit ihren 16 Millionen Einwohnern ist die Wirtschaftsmetropole des Landes. Dort haben die meisten großen Firmen ihren Sitz, dort leben die Entscheider.
Imamoglu ist seit Langem ein ernstzunehmender Konkurrent für Erdogan. Der Politiker der kemalistischen CHP gilt als politisches Ausnahmetalent. Nicht nur in der größten Stadt der Türkei genießt er enormen Rückhalt, landesweit und auch im europäischen Ausland hoffen viele auf Imamoglu. Für sie gilt er als liberale und demokratische Alternative zum religiös-konservativen Erdogan, der mit seinem Präsidialsystem zuletzt eine autoritäre Politik einschlug. Zugleich spricht Imamoglu auch Teile der AKP-Wählerschaft an. Der 53-Jährige ist gläubiger Muslim, konservativ und vertritt traditionelle Familienwerte.
Warum stellt er eine Gefahr für Erdogan dar?
Die CHP ist die größte Oppositionspartei der Türkei. Bei den Kommunalwahlen 2024 fügte sie Erdogans AKP eine empfindliche Niederlage bei, sie regiert inzwischen in fast der Hälfte der Großstädte, darunter auch in den Metropolen Istanbul, Izmir und Ankara.
Bei der nächsten Präsidentschaftswahl will die CHP ihr Ergebnis ausbauen und auf ihr Zugpferd Imamoglu setzen. Er sollte am Sonntag zum Spitzenkandidaten der Partei für die nächste Präsidentschaftswahl 2028 ernannt werden. Ohne den charismatischen Politiker dürften die Chancen für die CHP deutlich schlechter stehen.
Zuletzt hatte Erdogan auch auf Stimmen aus dem kurdischen Lager spekuliert. Nachdem der PKK-Chef Abdullah Öcalan nach Gesprächen mit der AKP die Mitglieder zum Niederlegen der Waffen aufgefordert hat, hofft Erdogan, dass die Annäherung für ihn zu Buche schlägt. Für Stimmen von kurdischen Wählerinnen und Wählern müssten mögliche Alternativen wie die CHP jedoch deutlich geschwächt werden. Vorwürfe der Zusammenarbeit zwischen CHP und der DEM stärken die Präsidentschaft Erdogans.
Präsident Erdogan könnte es bereits um die Präsidentschaftswahl gehen. Nach drei Amtszeiten darf er eigentlich nicht mehr antreten, so sieht es das Gesetz vor. Doch mit einer Verfassungsänderung könnte er erneut antreten, dafür wäre er aber vermutlich auf Stimmen von pro-kurdischen Abgeordneten angewiesen.
Wie könnte es nun weitergehen?
Die Opposition ist durch die Welle der Ermittlungen nun deutlich geschwächt. Die Festnahmen befeuern zudem die Sorgen über die Unabhängigkeit der türkischen Exekutiven. Die Opposition und Menschenrechtsorganisationen werfen Präsident Erdogan vor, die Ermittlungen zu nutzen, um seinen wichtigsten politischen Gegner auszuschalten.
Das Büro des Gouverneurs der Provinz Istanbul reagierte zügig. Es verhängte eine viertägige Demonstrations-, Versammlungs- und Nachrichtensperre. Bis Sonntag sind zudem zahlreiche Straßen in der Innenstadt und Bahnstationen gesperrt - auch der zentrale Taksim-Platz wurde abgesperrt. Begründet wurden die Maßnahmen mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Das Gouverneursamt teilte mit, man wolle "mögliche Provokationen" in der Provinz unterbinden. Dennoch versammelten sich nach der Festnahme zahlreiche Menschen vor dem Istanbuler Polizeipräsidium, wo Imamoglu festgehalten wird. Auch Studierende in Istanbul protestierten. In der Nähe der Istanbul-Universität habe sich die Polizei den Teilnehmern der Demo in den Weg gestellt, schrieb das Nachrichtenportal Birgün und teilte ein Video, auf dem zu sehen war, wie eine große Gruppe von Menschen eine Polizei-Barrikade durchbrach. Medien berichteten, Tränengas sei eingesetzt worden.
Einschränkungen gibt es auch online: Die Internetbeobachtungsorganisation NetBlocks meldete, dass der Zugang zu mehreren Online-Plattformen in der Türkei eingeschränkt worden sei. Dazu zählten X, YouTube, Instagram und TikTok.