Männer tragen ein in eine Decke eingeschlagene Leiche über Trümmer in Gaza-Stadt.

Gazastreifen Offenbar Hunderte Tote durch israelische Angriffe

Stand: 18.03.2025 14:55 Uhr

Israel hat massive Luftangriffe auf den Gazastreifen geflogen. Mehr als 400 Menschen sollen getötet, rund 500 verletzt worden sein. International stößt das Vorgehen auf Kritik - innenpolitisch sieht sich die Netanjahu-Regierung gestärkt.

Im Gazastreifen sind offenbar Hunderte Menschen durch israelische Luftangriffe ums Leben gekommen. Das von der Terrororganisation Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium sprach von mehr als 400 Todesopfern, unter ihnen seien auch viele Frauen und Minderjährige. Mehr als 560 Menschen seien durch die Attacken verletzt worden.

Die Zahl der Opfer könnte noch weiter steigen, da zahlreiche Menschen noch unter Trümmern verschüttet sein könnten, berichtete ARD-Korrespondent Jan-Christoph Kitzler. Von israelischer Seite wurden die Opferzahlen nicht bestätigt. Die Angaben des Gesundheitsministeriums sind unabhängig kaum zu überprüfen.

Hamas meldet Tod mehrerer Funktionäre

Israel hatte seine Angriffe auf mehrere Teile des Gazastreifens in der Nacht begonnen. Dabei sollen Ziele im Norden, Süden und im zentralen Gazastreifen attackiert worden sein, berichtete Kitzler weiter. Auch Gaza-Stadt sowie die Städte Deir al-Balah, Chan Yunis und Rafah wurden angegriffen.

Die Hamas teilte mit, dass bei den israelischen Angriffen mindestens vier ihrer ranghohen Funktionäre getötet wurden. Unter ihnen seien zwei Mitarbeiter für innere Sicherheit und Justiz.

Israelisches Militär greift massiv Ziele im Gazastreifen an

Sophie von der Tann, ARD Tel Aviv, tagesschau, 18.03.2025 12:00 Uhr

Netanjahu: Angriffe dienen "starkem Vorgehen" gegen Hamas

Wie ARD-Korrespondent Kitzler berichtet, veröffentlichte das Büro des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu eine Erklärung, in dem die Luftangriffe auf den Gazastreifen bestätigt wurden und von einem "starken Vorgehen" gegen die Hamas die Rede ist. Israel werde mit wachsender militärischer Stärke vorgehen.

Auch das israelische Militär selbst bestätigte "umfangreiche Angriffe auf Stellungen der Hamas". Laut einem Militärsprecher galten die Angriffe Hamas-Kommandanten der mittleren Führungsebene sowie der Infrastruktur.

Die Armee rief Bewohner des Gazastreifens auf, Grenzgebiete weiterhin zu meiden. Besonders einige Stadtteile von Chan Yunis im Süden sowie Beit Hanun im Norden des Küstenstreifens, die nahe der Grenze zu Israel liegen, seien betroffen. "Diese Gebiete sind gefährliche Kampfgebiete", hieß es in einem in arabischer Sprache veröffentlichten Aufruf. Die Menschen sollen sich demnach zu ihrer eigenen Sicherheit in den Westen der Stadt Gaza sowie in den Westen der Stadt Chan Yunis begeben. Die Zeitung Times of Israel mutmaßte, dies könne auf die Absicht der Armee hindeuten, ihre Offensive auszuweiten.

Jan-Christoph Kitzler, ARD Tel Aviv, tagesschau, 18.03.2025 13:11 Uhr

Ringen um Fortsetzung der Waffenruhe

In der Erklärung des Büros von Netanjahu hieß es, die Angriffe seien eine Reaktion auf die "wiederholte Weigerung der Hamas, unsere Geiseln freizulassen, sowie auf ihre Ablehnung aller Vorschläge, die sie vom Gesandten des US-Präsidenten Steve Witkoff und von den Vermittlern erhalten hat", hieß es in der Mitteilung.

Damit bezieht sich Israel auf die internationalen Bemühungen um eine Fortsetzung der Waffenruhe im Gazastreifen. Anfang des Monats war die erste, sechs Wochen andauernde Phase eines Waffenruhe-Abkommens zwischen Israel und der Hamas ausgelaufen. Seitdem scheitern Versuche, eine erneute Einigung zu erzielen.

Israels Verteidigungsminister Israel Katz drängte vor allem auf die Freilassung der restlichen Geiseln, die sich nach wie vor in der Gewalt der Hamas befinden sollen. "Wir werden nicht aufhören zu kämpfen, bis nicht alle Geiseln nach Hause zurückgekehrt und alle unsere Kriegsziele erreicht sind", betonte Katz. Die Hamas warf Israel hingegen vor, durch die nächtlichen Angriffe den Bemühungen um eine Fortsetzung der Waffenruhe einseitig ein Ende gesetzt zu haben.

Massive Kritik aus dem Ausland

Die Vereinten Nationen reagierten mit scharfer Kritik auf das militärische Vorgehen Israels. UN-Generalsekretär António Guterres äußerte sich schockiert und rief laut seinem Sprecher dazu auf, "die Waffenruhe zu respektieren, ungehinderte humanitäre Hilfslieferungen wieder aufzunehmen und die verbliebenen Geiseln bedingungslos freizulassen".

Auch UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk zeigte sich "entsetzt". Die vergangenen Monate hätten aus seiner Sicht bewiesen, "dass es keinen militärischen Weg heraus aus dieser Krise gibt". Der einzige Weg sei eine politische Lösung, die im Einklang mit dem Völkerrecht stehe. "Israels Einsatz von noch mehr militärischer Gewalt wird der palästinensischen Bevölkerung nur noch mehr Elend auferlegen", warnte Türk. Zugleich forderte auch er die Hamas auf, die verbliebenen Geiseln an Israel zu übergeben.

Palästinenserpräsident Mahmud Abbas rief die die internationale Staatengemeinschaft dazu auf, einzuschreiten. Israel müsse gezwungen werden, "seine Aggression gegen unser Volk überall im Gazastreifen zu beenden", erklärte dessen Sprecher Nabil Abu Rudeina.

Türkei wirft Israel erneut Völkermord vor

Kritik kam ebenso aus Ägypten, Saudi-Arabien, dem Iran, Russland und der Türkei. Letztere warf Israel erneut vor, mit seinen Angriffen auf den Gazastreifen Völkermord an der dortigen palästinensischen Bevölkerung zu begehen. Es sei "inakzeptabel, dass Israel eine neue Spirale der Gewalt auslöst", hieß es aus dem türkischen Außenministerium. Die internationale Gemeinschaft müsse eine entschlossene Haltung gegenüber Israel einnehmen, um einen dauerhaften Waffenstillstand und die Lieferung humanitärer Hilfe in den Gazastreifen zu gewährleisten.

Großbritannien rief Israel und die Hamas auf, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. "Wir wollen das Waffenruhe-Abkommen so schnell wie möglich wieder eingeführt sehen", erklärte ein Sprecher des britischen Premierministers Keir Starmer in London.

Angehörigen-Forum warnt vor Gefahr für Geiseln

In Israel selbst äußerten sich auch Angehörige von Hamas-Geiseln und ehemalige Geiseln entsetzt über die neuen Angriffe. Und sie äußerten deutliche Zweifel, ob wachsender militärischer Druck dafür sorgt, dass Bewegung in die festgefahrenen Verhandlungen um eine Waffenruhe und die Befreiung der restlichen Geiseln kommt. "Wir sind entsetzt, wütend und verängstigt", hieß es in einer Erklärung des Forums der Geisel-Angehörigen. Die Angriffe bedeuteten ein großes Risiko für die Geiseln, die sich noch immer im Gazastreifen befänden. Mit den neu aufgenommen Angriffen habe sich die israelische Regierung dafür entscheiden, diese Geiseln aufzugeben.

Luis Har, eine von nur acht verschleppten Geiseln, die Israel militärisch befreien konnte, warnte im Armeeradio, das militärische Vorgehen könne das Verhalten der Hamas gegenüber Geiseln beeinflussen. "Man kann nicht wissen, was mit den Geiseln geschieht. Vor allem von den Geiseln, die Soldaten waren, wissen wir, dass sie sich ohne Licht und ohne Essen unter der Erde befinden. Sie sind in einer schrecklichen Situation, das muss so schnell wie möglich ein Ende nehmen", so Har.

Auch Liri Albag, eine kürzlich freigelassene israelische Soldatin, äußerte in sozialen Medien ihre Empörung. Das Leben der zurückgelassenen Geiseln werde riskiert, sagte sie. Es sei unmöglich weiterzumachen, während noch immer Entführte in der Hölle dahinvegetierten. "Das ist kein Spiel", mahnte die junge Frau.

Laut ARD-Korrespondent Kitzler gibt es Berichte, dass eine Geisel bei den israelischen Angriffen getötet worden sein soll. Bestätigen lässt sich das aber nicht.

Ben-Gvir-Partei kehrt zurück in Koalition

Kurz nach den Luftangriffen verkündete Netanjahus rechtskonservative Regierungspartei Likud eine Rückkehr der ultrarechten israelischen Partei Otzma Jehudit (Jüdische Stärke) und deren Ministern in die Koalition. 

Otzma Jehudit hatte die israelische Regierung vor zwei Monaten aus Protest gegen die mit der radikalislamischen Hamas vereinbarte Waffenruhe verlassen. Die Partei des früheren Ministers für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, erklärte zu dem Zeitpunkt, das Abkommen komme einer "Kapitulation gegenüber der Hamas" gleich.

Bis Ende des Monats muss der israelische Haushalt gebilligt werden, sonst käme es automatisch zu Neuwahlen. Dafür braucht Netanjahu die Unterstützung von Ben-Gvir und Otzma Jehudit.