Islamisten an der Macht Wo steht Syrien zwei Monate nach Assad?
Seit zwei Monaten etabliert sich in Syrien ein neues politisches System. Bislang gibt sich Übergangspräsident al-Scharaa moderat und verspricht, alle Gruppen einzubinden. Doch Skepsis ist angebracht.
Nur knapp zwei Monate nachdem die Haiat Tahrir al-Scham (HTS), jenes islamistische Milizenbündnis mit der Al-Kaida-Vergangenheit, Syriens Präsident Baschar al-Assad gestürzt hatte, wurde HTS-Führer und Ex-Dschihadist Ahmed al-Scharaa Ende Januar zum Übergangspräsidenten ernannt.
Das allein ist nach Ansicht des Juristen Anas Joudeh aus Damaskus noch kein Grund zur Panik. "Das war natürlich eine Selbsternennung, aber das ist auch ein Stück weit verständlich. In Fällen von Revolutionen und solchen plötzlichen Veränderungen haben wir das auch schon in anderen Ländern gesehen."
Viele Syrer sind skeptisch, vor allem Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten sowie Frauen. Im ersten Fernsehinterview als Präsident will al-Scharaa sie einmal mehr beruhigen.
"Der Staat muss allen Gemeinschaften Sicherheit garantieren, auch jenen, die in der Vergangenheit gegeneinander aufgehetzt wurden. Wir können Syrien nicht aufbauen, wenn die Gesellschaft nicht geeint ist", sagt er.
Al-Scharaas Bruch mit Al-Kaida
Den Bruch mit Al-Kaida vollzog al-Scharaa 2016. Manche Fachleute halten die Abwendung vom Dschihadismus für glaubwürdig, andere sind skeptisch.
Übergriffe gegen Minderheiten sind bislang offenbar die Ausnahme. Frauen, die seit Jahren unter der HTS-Herrschaft in Idlib leben, berichten, dass ihnen dort niemand das Kopftuch aufzwang oder die Berufstätigkeit untersagte.
Jüngst tauchte allerdings ein Video auf, das zeigt, wie der jetzige, von der HTS eingesetzte Justizminister, vor zehn Jahren die Hinrichtung von Frauen beaufsichtigte, die ein Scharia-Gericht zum Tode verurteilt hatte.
Auch sollen Racheakte gegen Alawiten, die dem Assad-Regime nahe gestanden hatten, zunehmen, heißt es. Menschen verschwinden - wie der Sohn des Alawiten Mohammed Hazem aus der Gegend um Tartus am Mittelmeer: "Wir wissen nichts über das Schicksal meines Sohnes, seit 40 Tagen kein Telefonkontakt, keine Infos, gar nichts."
Für viele Syrerinnen und Syrer bleibt also angesichts der neuen Machtverhältnisse ein ambivalentes Gefühl.
Ein zerstörtes Land
Hinzu kommt: Die Wirtschaft liegt am Boden und die Infrastruktur nach 14 Jahren Krieg in Trümmern. Eigentlich können es sich die neuen Machthaber mit Blick auf das Jahrhundertwerk des Wiederaufbaus gar nicht leisten, Gesellschaftsgruppen auszugrenzen.
Das hat womöglich auch Übergangspräsident al-Scharaa erkannt: "Die Syrer verfügen über Fachwissen, eine starke Arbeitsmoral, Fleiß und Ausdauer. Sie sind harte Arbeiter mit vielen Fähigkeiten."
Wenn es darum gehe, einen bestimmten Sektor wieder aufzubauen, "dann finden wir die erforderlichen Fachleute - vom Ingenieur bis zum Bauarbeiter, vom Finanzexperten bis zum Agrarspezialisten", so al-Scharaa.
Das HTS-Milizenbündnis wurde inzwischen angeblich aufgelöst und in die syrische Armee eingegliedert.
Im Interview mit dem britischen Economist versprach al-Scharaa Ende Januar außerdem, dass die Übergangsregierung, die komplett aus HTS-Loyalisten besteht, innerhalb eines Monats "breiter und vielfältiger" mit Politikern aus allen Teilen der Gesellschaft neu gebildet werden soll.
Erstmals fällt das Wort "Demokratie"
In dem Interview verwendete al-Scharaa zum ersten Mal seit der Machtergreifung öffentlich das Wort "Demokratie". Vor allem aber sind es Wahlen und eine neue Verfassung, die dafür sorgen könnten, dass sich alle Menschen im Land repräsentiert fühlen.
Doch beides sei um "drei oder vier Jahre in die Zukunft" verschoben worden, sagt al-Scharaa im Interview. Derzeit sei die Durchführung von Wahlen schwierig. "Jeder zweite Syrer befindet sich im Ausland, viele haben keine offiziellen Dokumente, Geburten und Todesfälle wurden nicht registriert, es gibt viele vermisste Personen", erklärte er.
Darüber hinaus würden manche Gebiete noch immer nicht staatlich kontrolliert. "Wahlen erfordern eine Infrastruktur, die nur langsam aufgebaut werden kann", so der Übergangspräsident.
Den Menschen im Land bleibt nichts weiter übrig, als sich selber zu kümmern - was nebenbei auch die Zivilgesellschaft stärkt. Wie in einem Vorort der Hauptstadt Damaskus, wo 19 Freiwillige ein Komitee gebildet haben, das ehrenamtlich öffentliche Dienstleistungen wie etwa die Müllabfuhr übernimmt.
Einer von ihnen ist Salem Almograbi: "Im Moment erwarten wir nicht viel von der Übergangsregierung, es ist ja nur eine vorläufige. Mit Geduld harren wir aus, bis es zum angekündigten nationalen Dialog kommt und eine neue Verfassung geschrieben wird."