Arolsen Archives Die Suche nach dem Ende einer Geschichte
Es ist oft Detektivarbeit, bis Rechercheure der Arolsen Archives Angehörigen von NS-Opfern heute noch persönliche Gegenstände zurückgeben können. Bisweilen müssen Zettel auf polnischen Friedhöfen der Kontaktaufnahme dienen.
Eine Taschenuhr, ein Ehering, ein Siegelring: Dinge, die einem jungen Polen gehörten, der 1944 ins KZ Auschwitz verschleppt wurde. Die Nazis hatten ihm damals diese persönlichen Gegenstände abgenommen und fein säuberlich in einem Umschlag verwahrt. Ein paar Monate später schickten sie den Umschlag sogar weiter ins KZ Neuengamme, in das der Pole verlegt worden war. Dann verliert sich seine Spur. Mehr ist nicht von ihm geblieben. Nur sein Geburtsdatum und sein Name: Henryk Jatkiewicz.
Jetzt hat Malgorzata Przybyla die Taschenuhr in den Händen und untersucht sie nach Hinweisen. "Aufgrund der wenigen Angaben kann ich noch keine Suche starten. Ich weiß nur, dass Henryk Jatkiewicz Pole war. Und ich kenne sein Geburtsdatum."
In den Arolsen Archives lagern Hinweise zu etwa 17,5 Millionen Menschen, Opfern und Überlebenden des NS-Regimes.
Die Zeit spielt gegen die Rechercheure
Przybyla ist eine von mehreren Rechercheuren in den Arolsen Archiven. Es ist das weltweit größten Dokumentationsarchiv von NS-Verbrechen. 30 Millionen Dokumente sind hier gelagert, aber auch Gegenstände, die die Nazis Menschen stahlen, die in Konzentrationslager verschleppt wurden. Nach Ende des Krieges wurden sie hier gesammelt und nach und nach an die Angehörigen der Opfer zurückgegeben, manchmal sogar an die Opfer selbst.
Noch liegen in Bad Arolsen rund 2.000 solcher Gegenstände: Uhren, Ringe, Ketten, Fotos. Das Archiv sucht seit 2016 aktiv die Angehörigen der rechtmäßigen Besitzer. Je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird das.
Für die Direktorin der Arolsen Archives, Floriane Azouly, ist es aber ein extrem wichtiger Teil ihrer Arbeit: Denn mit der Rückgabe werde auch ein Teil der Familiengeschichte bekannt, der weitererzählt erzählt werde. "Was hat dieser Mensch, unser Familienmitglied, damals erlebt? Warum war er im KZ?" Wie stehe die Familie heute dazu? "Und was würden wir heute machen, wenn wieder eine Diktatur an der Macht wäre?"
Ein Buchstabe, der weiterführt
Im Fall Henryk Jatkiewicz ist noch vieles unbekannt. Es ist einer von 600 ungeklärten Fällen aus Polen hier im Archiv. Ist es 80 Jahre später überhaupt noch möglich, Hinweise zu finden? Malgorzata Przybyla, die Rechercheurin, taucht tiefer ein und findet tatsächlich etwas, das früher übersehen wurde. Auf dem Umschlag aus Auschwitz, in dem die Gegenstände aufbewahrt wurden, hat er mit seinem Namen unterschrieben. Sie erkennt, dass der Name durch fehlerhafte Übertragung offenbar falsch in ihren Archiven hinterlegt ist. Denn sie liest die Unterschrift anders: Jałkiewicz, nicht Jatkiewicz. Das hat ihn für die Rechercheure bisher unauffindbar gemacht.
Auf dem Umschlag aus Auschwitz steht auch: Henryk Jałkiewicz kam 1944 mit einem Transport aus Lodz. An dieser Stelle kommt Malgorzata Przybyla nicht weiter. Mit den Informationen meldet sie sich in Warschau bei Manuela Golc. Sie arbeitet als Ehrenamtliche für die Arolsen Archives. Schon mehr als einhundert Familien hat sie in Polen ausfindig machen und ihnen Erinnerungsstücke zurückgeben können.
Auf einem Umschlag aus Auschwitz findet die Rechercheurin Malgorzata einen Hinweis auf einen Fehler in Henryk Jałkiewiczs Namen.
Warten auf die Kontaktaufnahme
Golc findet Henryk Jałkiewicz im Geburtsregister von Lodz. Dazu die Namen seiner Eltern und Geschwister - und, dass sie alle bereits verstorben sind, vermutlich beerdigt in Lodz. Auf den digitalisierten Friedhofsplänen findet sie tatsächlich das Grab seines Bruders. Es ist bezahlt, es scheint also noch Familie zu geben, die sich um das Grab kümmert.
Telefonisch kann ihr die Friedhofsverwaltung aus Datenschutz nicht weiterhelfen. Also fährt sie selbst nach Lodz und sucht das Grab des Bruders von Henryk Jałkiewicz. Sie will dort eine Nachricht hinterlassen, die vielleicht von einem Familienmitglied gefunden wird. "Da sind frische Blumen", erzählt Golc, "also kommt bestimmt jemand zu Besuch ans Grab, jemand aus der Familie hoffe ich."
Auf dem Zettel steht ihre Telefonnummer und eine kurze Erklärung, worum es geht. Golc kann jetzt nur warten. Wie lange es dauert, bis sich jemand meldet, ist nicht vorhersehbar.
Vom einfachen Großvater zum Helden
Wie wichtig die Rückgabe der gestohlenen Dinge ist, weiß Agnieszka Bochenska sehr gut. Vor drei Jahren hat sie eine Uhr, zwei Eheringe und eine Kette aus Bad Arolsen zurückbekommen. Ihr Großvater hatte sie dabei, als er nach Auschwitz kam, zusammen mit einem Foto. Darauf sind seine Frau und sein Sohn zu sehen.
Bochenska selbst hat ihren Großvater nie kennengelernt und wusste nicht viel über ihn. Nur, dass er kurz vor Kriegsende in Deutschland starb. "In dem Moment, als ich die Gegenstände erhielt, fing ich an, nach Opas Geschichte zu suchen", erzählt sie.
Der Großvater wurde mit jedem weiteren Hinweis vom einfachen Opa, der sehr herzlich gewesen sein soll, zu einem Helden, der für andere kämpfte. Denn sie fand heraus, dass er Teil eines polnischen Untergrundnetzwerks in Auschwitz war. Die Mitglieder versuchten, Informationen über die Grausamkeiten, die dort passierten, in die Öffentlichkeit zu schmuggeln.
Von Auschwitz kam Bochenskas Großvater in ein KZ nach Deutschland, wo er kurz vor Ende des Krieges starb. Aus Bad Arolsen bekam sie auch ein Dokument über eine anonyme Grabstätte in Deutschland, wo der Großvater beerdigt ist. Bochenskas Großmutter hatte ihr Leben lang nach diesem Grab gesucht. Nun konnte sie endlich richtig Abschied nehmen.
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