
Lettland und die russische Bedrohung "Hier kommt das Magazin rein, merkt euch das!"
Verteidigungsunterricht als Schulfach: Die Aufrüstung beginnt in Lettland schon im Klassenzimmer, seit diesem Schuljahr verpflichtend. Aber die Abgrenzung zum Nachbarn Russland geht noch viel weiter.
In einer Aula in einem Gymnasium rund eine Autostunde von der lettischen Hauptstadt Riga entfernt knien Schülerinnen in einer Reihe auf Turnmatten. In den Händen hält jede von ihnen ein Gewehr.
Ausbilderin Sandra Skromane zeigt ihnen, wie sie damit umgehen: "Hier kommt das Magazin rein, merkt euch das!" An diesem Tag sind keine Patronen in den Waffen, zur Sicherheit. Erst einmal sollen die Jugendlichen lernen, wie so eine Schusswaffe aufgebaut ist und wie man sie bedient.

Heute wird ohne Patronen die Bedienung einer Waffe trainiert. Verteidigungsunterricht ist für die zehnten und elften Klassen seit diesem Schuljahr Pflicht.
"Alle sind bereit"
Der Verteidigungsunterricht für Oberstufenschüler ist an dem Gymnasium in Sigulda schon seit einigen Jahren Alltag. Und seit diesem Schuljahr für alle zehnten und elften Klassen in ganz Lettland Pflicht.
Für Schuldirektor Rudolfs Kalvans ist es in der aktuellen Weltlage eine Notwendigkeit, Schülerinnen und Schüler an der Waffe auszubilden. "Um den Frieden zu sichern, müssen alle mit anpacken", sagt Kalvans. "Indem wir auch schon junge Menschen trainieren, senden wir das Signal, dass es hier nichts zu holen gibt. Alle sind bereit."

"Um den Frieden zu sichern, müssen alle mit anpacken", das sollen die lettischen Schülerinnen und Schüler vermittelt bekommen.
"Die Welt ist voller Waffen, so ist es im Moment ja nun leider."
Mit dabei sind die 17-jährigen Freundinnen Katrina und Romija. Sie versuchen, sich alles ganz genau zu merken. Damit, eine Waffe in die Hand zu nehmen, haben sie kein Problem. "Es fühlt sich normal an. Die Welt ist voller Waffen, so ist es im Moment ja nun leider", sagt Katrina. Romija ergänzt: "Vielleicht passiert irgendwann mal was. Wenn die Stunde X kommt, können wir nicht genug wissen."
Nach den Schießübungen geht es raus ins Gelände. Hier sollen sich die Schülerinnen ganz ohne GPS und Handy orientieren. Stattdessen bekommen sie einen Kompass in die Hand. Gar nicht so einfach, finden Katrina und Romija. Aber mit ein paar Tipps von Ausbilderin Skromane und ein bisschen Hilfe von den Mitschülerinnen finden sie den richtigen Weg.

Die 17-jährigen Freundinnen Katrina und Romija versuchen sich ohne GPS und Handy zu orientieren. Auch das Teil des Verteidigungsunterrichts in Lettland.
Teil des lettischen Verteidigungskonzepts
Bei dem Training arbeiten die Schulen mit einer militärischen Jugendorganisation zusammen. Der Unterricht ist Teil des lettischen Verteidigungskonzepts angesichts der russischen Bedrohung.
Der ehemalige Sowjetstaat grenzt direkt an Russland. Entsprechend groß ist die Sorge, dass Lettland zum Ziel der Aggression werden könnte. Das Land sieht seine Souveränität in Gefahr - und bereitet sich gut vor.

Der finnische Rüstungskonzern Patria produziert unter anderem den Transportpanzer Patria 6x6, der voraussichtlich auch den deutschen Fuchs ersetzen könnte. Er kommt auch in der Ukraine zum Einsatz.
Panzerproduktion auf Hochtouren
Auch deshalb bauen die Letten jetzt Panzer im eigenen Land. In einem Werk im Norden Lettlands produzieren sie seit dem vergangenen Jahr den finnischen Transportpanzer Patria 6x6, Spitzname Kampftaxi.
Ein Team aus vier Mitarbeitern testet die Fahrzeuge, bevor sie die Fabrik verlassen. Dafür taucht Fahrer Jekabs mit dem Panzer sogar in ein schmales Wasserbecken, ähnlich einem Becken im Schwimmbad.
Denn der Patria 6x6 kann auch schwimmen. "Ich überprüfe, ob die Türen dicht sind und keine Lecks aufweisen. Denn der Panzer könnte jederzeit in einen See oder Fluss geraten", sagt Jekabs. Diesmal ist zum Glück alles dicht.
In der Halle nebenan läuft die Produktion auf Hochtouren. Dort bauen die Letten Wagen für das lettische Militär, aber auch für die Ukraine. In Deutschland könnte der Transportpanzer das Modell Fuchs ersetzen.
"Wir müssen in der Lage sein, unsere militärischen Aufgaben auszuüben, ohne abhängig von anderen zu sein", sagt Geschäftsführer Ugis Romanovs. "Das ist eine Forderung des Verteidigungsministeriums. Und deshalb haben wir diese Fabrik hier gebaut."
Sprachliche Grenzen
Doch nicht nur militärisch rüstet Lettland auf - auch sprachlich zieht das Land Grenzen. Die Regierung verbannt Russisch aus den Schulen und fordert Sprachtests von russischen Staatsbürgern. Wer nicht besteht, muss das Land verlassen.
Das sorgt für Spannungen. Denn rund ein Viertel der Bevölkerung gehört zur russischsprachigen Minderheit. In manchen Städten im Osten Lettlands - wie zum Beispiel in der Stadt Daugavpils - spielt sich das Leben auf Russisch ab. In Zeiten wie diesen sät das Misstrauen.
Dabei brauche das Land Einigkeit, sagt Natalja Palchevska. Mit Gleichgesinnten hat sie das russischsprachige Medium "Tschajka" (zu Deutsch "Möwe") gegründet. Das Ziel: auf Russisch neutral zu informieren. Damit die russische Propaganda in Daugavpils kein Gehör findet. "Dafür müssen sich alle noch mehr anstrengen!", meint sie - "damit ein Zusammenhalt entsteht, ein Zusammenwachsen in der lettischen Bevölkerung."
In einer Situation wie dieser dürfe nicht jeder in seinem eigenen Saft schmoren, ist Palchevska überzeugt. "Wir leben schließlich in ein und demselben wunderbaren Land."
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