Mehr Schiffsverkehr und "Schattenflotte" Die Angst vor der Katastrophe am Bosporus
Fast 50.000 Schiffe durchqueren jährlich den Bosporus, oft mit gefährlicher Fracht. Marode Schiffe der russischen "Schattenflotte" nähren die Sorge vor einer Umweltkatastrophe in der Meerenge. Wie versuchen Schiffslotsen, das zu verhindern?
Es sind dramatische Bilder, aufgenommen von Amateurfilmern, Anfang Dezember 2024: Ein riesiger Frachter gerät am Ende der Bosporus-Passage außer Kontrolle. Das Schiff rast offenbar ungesteuert kurz vor dem Istanbuler Wahrzeichen Kiz Kulesi auf den Stadtteil Üsküdar mit seiner belebten Promenade zu.
Eine Personenfähre wird dabei gerammt. Es gibt Verletzte. Hilfe kommt in letzter Sekunde. Ein Rettungsboot, die "Kurtarma 5", drängt das Schiff ab. Eine Katastrophe kann gerade noch verhindert werden.
Die "Kurtarma 8" ist ein Schwesterschiff der "Kurtarma 18" - auch sie ist ständig im Einsatz, um Schiffe durch den Bosporus zu lotsen.
Furcht vor einer Katastrophe
Rund 30 Kilometer ist der Bosporus lang, an der engsten Stelle 700 Meter breit und bis zu 130 Meter tief. Er trennt Asien und Europa, verbindet das Schwarze Meer mit dem Mittelmeer. Historisch ist diese Meerenge legendär, um die wichtige internationale Versorgungsroute wurden oft Kriege geführt.
Die Schifffahrt im Bosporus ist detailliert im Vertrag von Montreux von 1936 geregelt. Die Türkei hat zwar die volle Souveränität, die Meerenge gilt aber als internationaler Schifffahrtsweg. Handelsschiffe in Friedenszeiten haben freie Durchfahrt. Die türkischen Behörden können Gebühren erheben, aber nicht die Passage verbieten.
Und so ist eine Katastrophe inmitten der Millionenmetropole Istanbul die große Befürchtung von Zeynep Karammali. Die Chefin der Istanbuler Umwelt-Ingenieurskammer beobachtet den Verkehr auf dem Bosporus seit Jahren sehr genau. Die Strömungen seien äußerst gefährlich, sie liefen gegenläufig und änderten sich mehrfach am Tag, sagt sie. Dazu kämen starke Winde aus immer wieder unterschiedlichen Richtungen.
Deshalb seien die Regeln für die Schifffahrt in den letzten Jahren immer wieder verschärft worden. Frachtschiffe dürften nur noch in eine Richtung fahren. Diese Richtung wird, je nach Bedarf, täglich mehrmals geändert. Alles werde stark überwacht, auch weil der Verkehr durch Jachten, Fähren und Kleinboote immer weiter zunehme. Äußerst wichtig sei der Einsatz der Rettungsboote, sagt Karammali.
Unterwegs mit den Seerettern
18 Kurtarma-Rettungsschiffe sind rund um den Bosporus stationiert. Es sind richtige Kraftpakete: Knapp 30 Meter lang, 13 Meter breit, ausgestattet mit zwei Wasserkanonen und zwei Seilwinden können sie mit zwei Hochleistungsmotoren bis zu 82 Tonnen ziehen. Die Boote sind das Rückgrat der Seerettung, unterstehen der Leitung des türkischen Generaldirektorats für Küstensicherheit.
Das modernste Boot, die erst im vergangenen Jahr in Dienst genommene "Kurtarma 18", soll an diesem Tag einen Riesentanker durch den Bosporus eskortieren. Das Boot legt bei Üsküdar ab, acht Mann Besatzung sind an Bord, sieben Tage dauert ihre Schicht.
Kapitän Enis Kuscu fährt sein ganzes Leben schon zur See, erst als Kapitän eines Frachters, nun seit 13 Jahren als Seeretter. Seine "Kurtarma 18" ist vollgestopft mit modernster Technik. Die Kapitänskabine, eine offene Glaskuppel, sieht aus wie die Kommandozentrale eines Raumschiffes. Kuscu kann alle Blickrichtungen durch Kameras und Monitore kontrollieren, steuert alles mit einem Joystick.
Kapitän Enis Kuscu steuert die "Kurtarma 8" durch den Bosporus - eine Aufgabe, die äußerste Konzentration erfordert.
Hohe Konzentration gefordert
Am Eingang des Bosporus, nahe des Goldenen Hornes, holt die "Kurtarma 18" den Tanker "Delta Isos" ab - ein Riesenschiff mit 274 Metern Länge, das unterwegs nach Rumänien ist. Ein Lotse ist bereits am Eingang des Bosporus an Bord gegangen. Er steht in ständiger Funkverbindung mit Kapitän Kuscu.
Die etwa zweistündige Begleitfahrt beginnt. Die Geschwindigkeit darf zehn Knoten nicht übersteigen. Die "Kurtarma 18" umkreist dabei den Ozeanriesen ständig, die achtköpfige Crew überwacht jede Richtungsänderung, muss auf alles vorbereitet sein.
Ab 150 Meter Länge muss ein Schiff eskortiert werden, falls gefährliche Fracht an Bord ist. Ab einer Länge von 200 Metern ist das stets Pflicht, erklärt Kuscu. Zwischen 17.30 Uhr und 7.30 Uhr werde auch nur für ein Schiff von mehr als 250 Meter Länge die Durchfahrt genehmigt.
"Der kleinste Konzentrationsverlust kann zu einem Unfall führen", sagt Kuscu an der engsten Stelle des Bosporus. Hier zum Beispiel krachte 2018 ein riesiger Getreidefrachter aus Russland in eine Villa am Uferrand. Das Steuer war defekt.
Bis heute ist der Schaden deutlich sichtbar. Man kann die Wucht des Aufpralles erahnen. Damals hätten die Rettungsschiffe nicht schnell genug eingreifen können, sagt der Seeretter. Auch deshalb versuche man immer, möglichst nah am Begleitschiff zu bleiben. Denn man müsse sofort eingreifen können.
Forderung nach noch strengeren Regeln
Zeynep Karammali, die Chefin der Istanbuler Umwelt-Ingenieurskammer, erklärt, dass es schon viele Regeln für sicheren Schiffsverkehr gebe. Sie fordert aber noch mehr: neben der verpflichtenden Anwesenheit eines Lotsen an Bord eines jeden Frachtschiffes auch eine verpflichtende und regelmäßige Wartung aller Schiffe, die durch die Meerenge fahren.
Vor Weihnachten war nämlich die "Cordelia Moon" havariert, musste abgeschleppt werden. Der Tanker, ukrainischen Quellen zufolge Teil der russischen "Schattenflotte", die unter der Fahne anderer Länder die westlichen Sanktionen umgeht, fuhr offenbar ohne Versicherung und war schon vorher stark beschädigt. Die Meerenge musste mehrere Stunden gesperrt werden.
Noch mehr Sicherheit durch noch mehr Vorschriften - das sei ein Muss, so Karammali. Vor allem auch, weil der Querverkehr durch Ausflugsschiffe, Jachten und Fährboote in den letzten Jahren stark zugenommen habe.
Mission erfolgreich beendet
Kapitän Kuscu und seine Crew haben die "Delta Isos" sicher ins Schwarze Meer begleitet. In der Nähe von Sariyer, bei der dritten Bosporus-Brücke am Schwarzen Meer, drehen sie bei. Nun bereiten sie sich auf einen neuen Auftrag vor.
Sie sind während ihrer Schicht ständig in Alarmbereitschaft, auch für mögliche Einsätze im Schwarzen Meer oder Mittelmeer. Denn ein Unfall im Bosporus könnte dramatische Folgen für die Umwelt und die Bewohner von Istanbul haben.
Auch deshalb freut sich Kuscu, dass bald zwei weitere "Kurtarma"-Schiffe in Dienst gestellt werden. "Dann sind wir noch besser vorbereitet", sagt er, bevor die Reporter das Schiff verlassen. Auch an diesem Tag haben sich lange Warteschlangen von Schiffen am Eingang des Bosporus gebildet, die darauf warten, durch eine der befahrensten Seerouten der Welt gelotst zu werden.