Attentäter von Magdeburg Mehr als 100 Mal auffällig geworden
Nach den Sondersitzungen im Bundestag offenbart sich, was schon kurz nach dem Attentat in Magdeburg anklang: Der Täter war vielen Sicherheitsbehörden bekannt. Doch so richtig alarmiert war offenbar niemand.
Jetzt liegt die Chronologie des Täters von Magdeburg, Taleb A., vor: Auf 16 Seiten haben die Sicherheitsbehörden zusammengetragen, wie massiv auffällig er vor dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt war, der sechs Tote und Hunderte Verletzte gefordert hat.
Im Innenausschuss des Bundestags soll geklärt werden, wie das alles passieren konnte. Dafür hat das Gremium, das heute zusammenkam, die Chronologie erstellen lassen. Es geht darin um Menschenhandel, Beleidigung und Drohungen. Mehr als 100 Behördenkontakte zählt der Bericht auf - von Landeskriminalämtern über das Bundeskriminalamt bis hin zu Bundesamt für Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst.
Verurteilung wegen der Androhung von Straftaten
Es war 2013, sieben Jahre nach seiner Einreise in Deutschland, als Taleb A. das erste Mal auffiel. In einem Telefonat mit der Ärztekammer drohte er mit einem Anschlag von "internationaler Beachtung". Er verwies auf das Attentat in Boston, bei dem drei Menschen starben. So stellte es das Amtsgericht Rostock später fest und verurteilte Taleb A. zu 90 Tagessätzen - kurz unterhalb der Grenze einer Vorstrafe. Dennoch wurde das Urteil im Bundeszentralregister aufgenommen.
Nur ein Jahr später wird Taleb A. wieder auffällig. Wieder droht er mit Taten von "internationaler Beachtung". Es kam zu einer sogenannten Gefährderansprache. Eine präventive, eher niedrigschwellige Maßnahme, um potenzielle Verdächtige an die Einhaltung von Recht und Gesetz zu erinnern. Geholfen hat sie offenbar wenig.
Mehrmals gibt es Hinweise aus Saudi-Arabien
Im Juli 2014 erhält das Bundesamt für Verfassungsschutz ein Schreiben der saudischen Behörden, weil Taleb A. auch dort gedroht hatte, nachdem ihm ein Stipendium entzogen wurde. Der Verfassungsschutz befindet, es sei nicht zuständig, und will den Hinweis an das Landeskriminalamt weitergegeben haben. Ein neues Verfahren wegen Beleidigung kommt dazu, wegen mangelnden Tatverdachts wird es eingestellt.
2015 wenden sich erneut saudische Behörden an die deutschen. Sie wollen wissen, wo sich Taleb A. aufhält und mit wem er Kontakt hat. Neben dem Bundeskriminalamt und verschiedenen Landeskriminalämtern ist auch das Bundesamt für Verfassungsschutz informiert. Dort wird der Vorgang nicht weiter bearbeitet.
Dann noch eine Beleidigung - dieses Mal gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft Rostock und zwei Richtern. Wieder wird das Verfahren eingestellt. Taleb A. droht unbeeindruckt weiter. Mitte 2015 kündigt er an, sich eine Pistole zu kaufen und zwei Richter zu erschießen. Auch dieses Verfahren wird eingestellt - kein hinreichender Tatverdacht.
Taleb A. findet eine neue Rolle
Anfang 2016 stellt Taleb A. einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Er gibt an, von Saudi-Arabien verfolgt zu werden. Man wolle ihn hinrichten, falls er zurückkehre. Vom Islam habe er sich bereits seit Jahren abgewendet. Am 18. Juli 2016 erhält Taleb A. gemäß Artikel 16a Grundgesetz Asyl. Ein Schutzstatus, der bis zu einem Widerruf gewährt wird. Solange dem Bundesamt keine Widerrufsgründe bekannt werden, ist Taleb A. in Deutschland sicher.
Nun ändert Taleb A. sein Verhalten und auch den Kontakt mit den Sicherheitsbehörden. Er tritt mehr und mehr als Aktivist auf, der Geflüchteten helfen will. Aus der Chronologie ergibt sich, dass es sich häufig um Frauen gehandelt haben soll. Doch auch dabei gerät er in den Fokus der Ermittlungsbehörden. Einmal wird ihm vorgeworfen, eine Frau gegen ihren Willen geküsst zu haben. Das Verfahren wird wegen Geringfügigkeit eingestellt.
Weitere Auffälligkeiten kommen hinzu - wie etwa der Verdacht auf Menschenhandel, illegale Einwanderung und möglicher Asylmissbrauch. Warnungen kommen 2022 nun auch aus Großbritannien. 2023 beantragt Saudi-Arabien eine sogenannte "Red-Notice", die zu seiner Auslieferung führen soll. Doch wegen des Flüchtlingsstatus kommt es nicht dazu.
Taleb A. hat inzwischen auch begonnen, Strafanzeigen zu stellen, insgesamt 18 Mal. Sie führen zu keiner Anklage. Parallel beginnt Taleb A. seine Tätigkeit in einem hochsensiblen Bereich: dem Maßregelvollzug als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er behandelt drogensüchtige Straftäter.
Keine Behörde fühlt sich angesprochen
Häufig wurde das Bundesamt für Verfassungsschutz mitinformiert. Doch es kommt zu keiner richtigen Befassung. Auch weitere Hinweise - etwa der kuwaitischen Botschaft - wegen des auffälligen Verhaltens von Taleb A. enden oft in der Formulierung wie "keine Relevanz für das BfV (Bundesamt für Verfassungsschutz), keine weitere Bearbeitung".
Taleb A. wendet sich mehrmals an Bundesinnenministerin Nancy Faeser über das Online-Portal des Ministeriums. Öffentlich droht er im November auf der Seite: "Something big will happen in Germany. My advice: don't seek asylum in Germany." ("Etwas Großes wird in Deutschland passieren. Mein Rat: Sucht kein Asyl in Deutschland.") Oder: "Germany will have to pay the price. A huge price." ("Deutschland wird den Preis zahlen müssen. Einen hohen Preis.") Wieder kommt es zu Ermittlungsverfahren, sie enden im nirgendwo.
Als extremistisch wird der Sachverhalt nach wie vor nicht eingestuft. Der Generalbundesanwalt hat die Ermittlungen nicht wie in anderen Fällen an sich gezogen.