Eltern-Kind-Klinik Wenn Eltern süchtig sind
Millionen Menschen sind suchtkrank. Jedes fünfte Kind wächst in einer Familie mit mindestens einem betroffenen Elternteil auf. In einer Suchthilfeeinrichtung in Rheinland-Pfalz wird Eltern und Kindern geholfen.
Selina hilft heute beim Kochen. Küchendienst ist Teil der Therapie in der Fachklinik Villa Maria im rheinland-pfälzischen Ingenheim. Denn wenn Selina kocht, dann kämpft sie so auch gegen ihre Abhängigkeit. Eine feste Tagesstruktur hilft ihr, stabil zu bleiben.
Während Selina Falafel in der Pfanne wendet, erzählt sie, warum sie sich hier gut aufgehoben fühlt: "Ich bin im geschützten Rahmen, habe klare Aufgaben und ich kann den Alltag erproben. Den Alltag ohne Alkohol."
Die Tochter kam zu Verwandten
Selina ist 43 Jahre alt. Nach einem traumatischen Erlebnis begann sie, Alkohol zu trinken, um negative Gefühle und Angst zu betäuben und schlafen zu können. Sie geriet in die Abhängigkeit. Irgendwann konnte sich die alleinerziehende Mutter nicht mehr gut um ihre heute eineinhalbjährige Tochter kümmern. Dann schritt das Jugendamt ein, die Tochter kam zu Verwandten.
Selina macht schon ihre zweite Therapie, nach der Ersten hatte sie einen Rückfall. Nun will sie endgültig raus aus der Sucht, für sich und ihre Tochter: "Das sind Schmerzen, wenn das Kind auf einmal weg ist und du getrennt wirst. Das ist das Schrecklichste, was einem passieren kann."
Millionen Kinder von Sucht der Eltern betroffen
Selinas Tochter wird im Kinderhaus der Villa Maria betreut, während die Mutter in der Suchttherapie ist. Mehr als drei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland haben laut Bundesgesundheitsministerium mindestens einen suchtkranken Elternteil. Damit lebt etwa jedes fünfte Kind in einer Familie mit Suchtproblemen. Oft kämpfen die Kinder ihr ganzes Leben mit den Folgen.
Denn Kinder suchtkranker Eltern können sogenannte Anpassungsstörungen entwickeln, erläutert die Leiterin der Villa Maria, Psychologin Petra Denzer: "Störungen des Sozialverhaltens, Depressionen, ADHS oder Angststörungen kommen bei diesen Kindern häufig vor."
Kinder suchtkranker Eltern brauchen besondere Unterstützung.
Kinder drogenabhängiger Eltern sind Risikogruppe
Außerdem haben sie ein erhöhtes Risiko, selbst im Laufe ihres Lebens eine Suchterkrankung zu entwickeln. Um diese Folgen zu vermeiden, werden die Kinder in der Villa Maria heilpädagogisch betreut und bekommen, je nach Alter, auch eigene Therapieangebote.
Denn ihre Eltern konnten sich in der Zeit der Abhängigkeit nicht angemessen um sie kümmern, weil Drogenkonsum Einfluss auf das Verhalten gegenüber den Kindern hat, erklärt Petra Denzer: "Drogen verändern Eltern emotional. Manche Stimulanzien machen schläfrig und unaufmerksam, andere unruhig, leicht reizbar oder aggressiv", so die Psychologin. Die Empathiefähigkeit von Eltern, die Drogen nehmen, sei zudem vermindert.
Scham und Schuldgefühle bei Betroffenen
Auch Martina und Christian sind Eltern und süchtig. Christian ist abhängig von Cannabis, Martina von Amphetaminen. Die beiden haben zusammen eine zweijährige Tochter, auch Christians fünfjähriger Sohn lebt bei ihnen. Sie sind schon zum zweiten Mal in der Suchtklinik Villa Maria. Nach der ersten, wochenlangen Therapie wurden beide rückfällig.
"Es ist schlecht, mit Kindern zu konsumieren", sagt Martina, und man sieht ihr an, wie schwer es ihr fällt, von ihrer Erkrankung zu erzählen: "Die Sucht hatte ich eine zeitlang gut im Griff, bis verschiedene Schicksalsschläge mich wieder reingerissen haben. Ich habe mich nicht getraut, mir gleich Hilfe zu holen, weil doch auch Scham und Angst, die Kinder zu verlieren, sehr groß waren." Ihr Partner Christian ergänzt: "Man schämt sich dafür. Man weiß, dass es falsch ist."
Martina und Christian wollen für ihre Kinder ihre Sucht bekämpfen.
Sucht von WHO anerkannte Krankheit
Scham und Schuldgefühle machen allen Süchtigen stark zu schaffen, sagt auch Psychologin Petra Denzer: "Es ist viel einfacher, zu sagen, ich hatte einen Herzinfarkt, weil ich so viel gearbeitet habe, statt zu sagen, ich komme mit meinen Emotionen oder Traumata nicht klar, und deswegen konsumiere ich Drogen."
Die gesellschaftliche Stigmatisierung Suchtkranker sei nach wie vor groß, so Denzer. Dabei sei Sucht eine von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkannte Erkrankung, die im Gehirn nachgewiesen werden kann. Und sie komme in allen gesellschaftlichen Schichten vor.
"Wenn ich viel Geld habe, kann ich mir vielleicht andere Dinge leisten, als wenn ich wenig Geld habe, vielleicht ist es in manchen Schichten eher üblich Kokain zu nehmen, in anderen ist es Alkohol oder Amphetamine, aber es ist immer sehr, sehr schwer zuzugeben, dass man abhängig ist", sagt Petra Denzer.
Suchtkranke lernen, Emotionen zu regulieren
Auch Martina und Christian wurden ihre Kinder für einige Zeit vom Jugendamt entzogen. Hier in der Villa Maria lernen sie, sich wieder verantwortungsvoll um sie zu kümmern. Im Rahmen ihrer Therapie sollen die Eltern wieder eine stabile Bindung zu ihren Kindern aufbauen.
Martina hatte sich wegen ihrer Suchterkrankung stark zurückgezogen, ihr Leben war bestimmt vom Konsum: "Ich bin dann nicht mehr auf Schulfeste gegangen, oder die Kinder mussten draußen Geburtstag feiern. Ich habe Familien einfach nicht mehr bei mir reingelassen, aus Angst, weil man in so eine Schublade gesteckt wird."
Zusammen mit ihrer Suchttherapeutin reflektiert Martina, wieso sie süchtig wurde, welche Funktion die Drogen hatten und wie sie ihre Emotionen künftig regulieren kann. Dabei hat Suchttherapeutin Tamara Fluck immer die gesamte Familie im Blick: "Wir schauen: Was braucht das Kind, was braucht der Erwachsene, und was braucht das gesamte System? Wir wollen erreichen, dass die Rehabilitanten wissen, an was sie noch weiterarbeiten müssen, wenn sie draußen sind. Denn man geht hier nicht raus und hat alles erledigt", erklärt Fluck. Die Einrichtung bietet auch nach der Entlassung noch Betreuung und Nachsorge an.
Martina, Christian und Selina ist bewusst, dass sie noch einen weiten Weg vor sich haben. Aber sie wollen es schaffen, abstinent zu bleiben. Für sich und für ihre Kinder.