Berlin Am Späti in Berlin-Weißensee: "Ich habe nicht verstanden, wie man zehn Euro für ein Gefühl ausgeben kann"
Die meisten Berliner wohnen außerhalb des Rings. Zwei rbb|24-Reporter sprechen dort Leute am Späti an und fragen, was sie umtreibt. Heute: ein junger Mann aus Prenzlauer Berg, der von seinem Weg in die Kriminalität und Drogensucht erzählt.
rbb|24 will mit den Gesprächsprotokollen, die "Am Späti" entstanden sind, Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben die Meinungen der Gesprächspartner wieder.
Bevor wir das Gespräch beginnen, zerkaut er eine Tablette und spült sie mit Wasser herunter. Er zündet sich eine Zigarette an.
Ich bin im Prenzlauer Berg geboren - ohne Hebamme. Die ist zu spät gekommen. Wirklich, das ist kein Spaß. Meine Mutter wollte eine Hausgeburt machen. Wir hatten keine Zeit mehr. Dann hat mein Vater das - Gott sei Dank - irgendwie hinbekommen. Hat es instinktiv genau richtig gemacht, wie er es hätte machen sollen. Das meinte die Hebamme später. Die ist dann noch zum Anstoßen gekommen, aber bei der Geburt war sie nicht dabei.
Er lacht.
Das Haus war auf der Prenzlauer Allee. Da war früher ein Norma daneben. Ich glaube, das könnte eine gute Geschichte für euch sein. Da hat unsere ganze Familie gewohnt, meine Eltern und meine Tante, mein Onkel und andere Freunde. Da wollte keiner wohnen, das war ja Osten und so. Die haben einfach die Türen aufgetreten und Familie und Freunde haben in dem Haus gewohnt. Die Türen waren immer offen, ich bin immer rüber zu meiner Tante, mein Onkel hat da immer Fernsehen geguckt.
Der Vermieter hat erst nach ein paar Jahren gecheckt, dass wir da wohnen. Er hat uns dann ganz günstige Mietverträge gegeben. Nach einer Zeit wollte der Vermieter uns raushaben, weil die Wohnungen dann teurer vermietet werden können. Irgendwann hat mein Vater mit einer Sache richtig gut Geld gemacht und eine Wohnung gekauft. Voltastraße, Nähe Mauerpark. Da sind wir hingezogen, als ich vier war. Meine Eltern haben sich aber kurz danach wieder getrennt und ich bin zurück in den Prenzlauer Berg.
Meine Kindheit war eigentlich ganz normal. Ich bin 2002 geboren. Es war schön, entspannt, nicht schlimm oder gefährlich. Trotzdem habe ich später keine Schule gemacht und mich scheiße benommen. Es gibt hier viele Leute in Prenzlberg, die Scheiße bauen. Heutzutage ist Deutschrap voll der Hype. Ich habe sowas schon früher gehört. Ich fand das cool und hab dann auch angefangen Blödsinn zu machen. Tja, und das hat mir wirklich ein paar Probleme gebracht. Hätte ich mir nicht so Gangster-Zeugs als Vorbild genommen, dann hätte ich bestimmt auch was anderes gemacht.
Ich war schon in der Grundschule ein Klassenclown. Angefangen hat alles, als ich gekifft hab. Deswegen auch diese Legalisierung ... ich weiß nicht. Meine Freunde haben gekifft und ich stand jahrelang daneben - ich fand das voll den Blödsinn. Ich habe damals nicht verstanden, wie man zehn Euro für ein Gefühl ausgeben kann. Ich dachte mir: Hä? Davon kann ich mir was zu essen holen oder voll geiles Spielzeug! Mit 12 habe ich es mal probiert und voll die Paranoia bekommen. Ich dachte, ich vertrage das nicht und kriege davon einen Schaden. Mit 14, 15 habe ich wieder angefangen. Ab da bin ich nicht mehr zur Schule gegangen.
Zehn Euro am Tag waren ja nicht unbedingt genug. Das sind zwei Joints für uns gewesen. Wir wollten uns den Tag vertreiben. Wenn ich heute kleine Kinder sehe, die Leute abziehen, denke ich mir: Wenn die wüssten, welche Strafe sie für Raub bekommen. Das habe ich gemacht, als ich ganz jung war. Ich fand das irgendwie voll aufregend. Erst dachte ich: oha, die Armen, wenn mir das passieren würde - wie sollte ich das meiner Mutter erklären? Hatte voll das Mitleid. Später war ich selber dabei, wollte mich beweisen und brauchte natürlich auch Geld zum Kiffen. Das finde ich heute aber voll scheiße. Irgendwen auf der Straße abziehen, finde ich schamlos unnötig. Der hat ja nichts mit so einer Welt zu tun.
Eine Zeit lang habe ich Winterjacken und Geld oder halt Gras abgezogen. Da war ich 15, 16 Jahre alt. Raub ist eine schlimme Straftat, zwei Freunde von mir sind dafür ins Gefängnis gegangen. Das habe ich deswegen dann nicht mehr gemacht. Eine Zeit lang habe ich Postbetrug gemacht - das kennen ganz viele in Berlin, das wird hier viel gemacht, aber das ging früher besser.
Auf die Frage, ob er jemals bestraft wurde, lacht er etwas zurückhaltend.
Das war ehrlich gesagt nur meine Anfangskarriere. Ich muss Ihnen sagen, ich bereue das, aber andererseits...
Er zögert.
Manchmal ist man stolz, weil man von anderen Leuten so eine Art Bewunderung kriegt. Nicht von jedem. Manche Leute denken, das ist Abschaum - ist es ja an sich auch. Heutzutage habe ich voll Mitleid, dass ich jemanden im Winter ohne Winterjacke nach Hause geschickt hab. Ich war voll das Arschlochkind in der Zeit.
Stimmt, das hab ich vergessen! Als ich 15 war, habe ich auch kurz Einbrüche gemacht, da sind wir in Schulen eingebrochen, aber auch zweimal in einen Laden. Ich und meine Freunde haben in der Schule mal 1.000 und 1.100 Euro gefunden. Das war voll der geile Abend. Wir waren 15, 16 und sind dann zur Kurfürstenstraße zu einer Prostituierten gegangen, haben gekifft – das war für mich einer der geilsten Tage in meinem Leben.
Danach Medikamentenhandel und Dokumentenfälschung mit Rezepten. Die habe ich in der Apotheke eingelöst, Tilidin und Alprazolam. Habe es dann auch selber genommen, das hat mich noch weiter in die Sucht gebracht. Ich konnte mir aber auch richtig was ansparen. Ich habe im Monat zwischen 15- und 18.000 Euro gemacht. Das war nicht mein Gewinn, das war Umsatz. Ich habe das alles auf so eine Liste notiert. Moment.
Er zündet sich eine weitere Zigarette an.
Das mit den Rezepten habe ich später aufgehört. Es war nervig, jeden Tag bei zehn Apotheken anzurufen und hinzufahren. Langsam wurde es auch komisch, dass immer der gleiche Arzt auf den Rezepten steht. Ich habe natürlich die Apotheke immer wieder gewechselt, aber es kommt schon komisch, so ein Jugendlicher, der Medikamente für Krebskranke abholt.
Fentanyl ist ein Opioid. Das ist ein Schmerzpflaster und die Droge, von der in Amerika, in Philadelphia alle wegschlafen. Ich habe hauptsächlich Oxycodon und Fentanyl verkauft. Das ist eigentlich morallos. Aber ich habe selber Oxy genommen, habe also selber dieses Suchtproblem. Mit den Fenta-Kunden hatte ich richtig Mitleid. Ich wusste, die zerschneiden die Pflaster und rauchen die dann auf Alufolie.
Oxy und Hero sind fast auf der gleichen Stufe. Ich habe Oxy-Sucht – das war auch die Tablette, die ich eben genommen habe. Fenta ist 50- bis 100-mal stärker als Heroin und deswegen ist der Entzug auch nochmal höllischer. Oxy nehme ich seit einem Jahr, habe jetzt aber auch einen Termin für die Entgiftung.
Ich will aufhören, das geht nicht mehr so weiter. Opioid-Entzug ist schwer. Der körperliche Entzug ist eine Sache, aber der psychische danach kann sehr lang bleiben – so, dass du ohne nicht mehr glücklich wirst. Wenn ein Oxy-Kunde gekommen ist und gesagt hat, er will Fenta mal ausprobieren, habe ich immer gesagt: nee, nicht bei mir. Also, ich gebe es nur an Leute, die schon süchtig danach waren. Die sind dir dann eh dankbar. Die brauchen das von irgendwem, die sind am Verrecken.
Es läuft nicht mehr so gut wie früher, weil mein Account bei Telegram gelöscht wurde. Vor paar Monaten wurde der Gründer von Telegram in Frankreich verhaftet und zwei Wochen später wurden viele große Accounts gelöscht. Ich hatte alles - Visitenkarten, 15- bis 18.000 Euro im Monat von den Kleinkunden. Ich bin auch immer nach Polen gefahren, da kosten die Oxys nur 50 Euro. Hier kostet die Schachtel 400 in der Apotheke. Du verkaufst sie dann für 1.000, 1.500 Euro.
Er redet immer schneller und ohne Pausen von seinen Lieferungen und vom Umsatz, den er gemacht hat. Erst spricht er in der Vergangenheit, dann immer häufiger in der Gegenwart - es wird klar, dass er auch heute noch dealt.
Als mein Account gelöscht wurde, habe ich wieder mit Einbrüchen und so was angefangen. Das mache ich jetzt nicht mehr. Vor ein paar Tagen hat meine Mutter einen Anruf bekommen. Sie haben gesagt, dass sie ermitteln und irgendwas mit langen Strafen. Ich wurde vorgestern mit Haftbefehl für den Arrest abgeholt.
Er kramt in seiner Tasche und zieht ein Papier heraus.
Ich habe jetzt so einen Entlassungsschein bekommen wegen der Medikamente. Ich konnte den Arrest nicht antreten, weil die mir das drinnen nicht geben können. Im richtigen Gefängnis in Moabit können sie das, aber nicht in der Arrestanstalt in Lichtenrade, da haben sie nur montags einen Arzt. Kalten Entzug können die nicht machen, der ist gefährlich, deswegen wurde ich da wieder rausgeschickt. Und die meinten halt, ich soll diesen Arrest antreten.
Er schaut auf das Handy, das das Gespräch aufzeichnet.
Aber beenden wir das Thema, Sie können mir gleich noch normale Fragen stellen - wie gesagt, ich kriege einen Laber-Flash.
Er lacht.
Ich sage gar nicht, dass ich schwierig aufgewachsen bin. Natürlich hatte ich ein paar Probleme, aber die hat ja jeder. Es waren eher falsche Entscheidungen und jugendliche Dummheit, wie ich da reingeraten bin. Ich will clean werden von dem Oxy. Ich habe jetzt auch schon einen Termin. Mein erstes Ziel: erstmal zurück zu Tilidin und dann kann ich über aufhören nachdenken.
Wie es weitergehen soll? Ich bin ein bisschen trotzig und perspektivlos. Irgendwie will ich keine Ausbildung machen, muss ich Ihnen ehrlich sagen, ich würde gerne selbstständig sein oder sowas. Mir haben bis jetzt immer nur die Sachen Spaß gemacht, die Adrenalin bringen. Deswegen wäre ich gerne Polizist oder bei der Bundeswehr. Da machst du jeden Tag was anderes, rennst Leuten hinterher, musst die packen, weißt du? Wenn irgendwo Blaulicht ist, guckt jeder dahin. Du bist als Polizist immer da, wo das Geschehen ist, wirst von einem Ding zum nächsten gerufen, 24/7, immer was anderes. Den Job würde ich eigentlich voll gerne machen.
Der Späti-Betreiber verlässt den Laden, grüßt ihn freundlich und richtet seiner Mutter viele Grüße aus.
Hallo Chef!
Als der Chef ein paar Meter weiter ist, lacht er und spricht leise weiter.
Er kennt auch meine Mutter, aber der weiß natürlich nicht alles.
Meine Wünsche fürs nächste Jahr? Dass ich wegkomme vom Oxy, dass ich gut für meine Mutter da bin. Das Verhältnis ist gerade ganz gut, das soll so bleiben. Dass ich meine Sachen auf die Reihe krieg, denn ich mache meiner Mutter auch Sorgen damit.
Mein Leben ... Ich habe Spaß, es ist aufregend, aber hat auch sehr viel Negatives. Ich wünsche mir einfach, dass alles gut läuft und schön wird.
Das Gespräch führte Jonas Wintermantel, rbb|24.