Berlin Brandenburg Debatte um unbezahlten Karenztag: "Wir sind mitten in einem Verteilungskampf"
Die Deutschen melden sich viel zu oft krank, findet Allianz Chef Bäte - und laut einer Studie sollen die Krankgemeldeten auch an der Rezession schuld sein. DIW-Chef Fratzscher im Interview auch zu der Frage, woran es in Wahrheit krankt.
rbb|24: Herr Fratzscher, wie oft waren sie 2023 krankgeschrieben?
Marcel Fratzscher: Krankgeschrieben war ich gar nicht. Ich habe das Glück gehabt, dass ich keinen Krankheitstag hatte. Das heißt nicht, dass es mir immer gut ging, aber wenn ich mich mal schlapp gefühlt habe, habe ich von zu Hause aus arbeiten können. Das ist ein Luxus, aber ein Luxus, den nicht jeder hat.
Studien, auf die sich zum Beispiel der Allianz Chef Oliver Bäte bezieht, sprechen im Schnitt von 20 Fehltagen der Deutschen im Jahr 2023. Ist Deutschland damit Weltmeister bei den Krankmeldungen, wie behauptet wird?
Internationale Vergleiche sind schwierig, und da sollte man sich wirklich zurückhalten, weil in vielen Ländern Krankheitstage nicht wirklich systematisch erfasst werden. Bei uns gab es auch eine wichtige Änderung, dass man erst vor einigen Jahren angefangen hat, ab dem ersten Tag die Krankheitszahl zu zählen. Also hier ist Vorsicht geboten, sowohl im internationalen Vergleich als auch im Vergleich über die Zeit.
Aber ich glaube, er hat schon einen Punkt, wenn er sagt - wir müssen wirklich kritisch hinschauen - wieso sind Menschen in Deutschland heute häufiger krank? Woran liegt das? Was sind die Ursachen?
Was mich daran stört, ist, dass natürlich sofort implizit der Vorwurf des Blaumachens da ist, dass die Leute gar nicht arbeiten wollen und gelegentlich lieber auf der faulen Haut liegen. Das ist sehr populistisch und da müssen wir ganz kritisch hinschauen.
Verschiedene Studien gehen da noch weiter. Eine Studie des Verbands der forschenden Pharmaunternehmen VFA kommt sogar zum Schluss, dass ohne die überdurchschnittlichen Krankheitstage die deutsche Wirtschaft um knapp 0,5 Prozent gewachsen wäre. Müssen wir uns alle einfach nur einen Ruck geben, dann klappt das auch mit dem Wirtschaftswachstum?
Ich halte solche Studien für tendenziös und für falsch, weil sie Annahmen treffen, wenn die Menschen zur Arbeit gehen würden, dann würde alles laufen.
Also wenn man jetzt mal davon ausgeht, dass die Menschen wirklich krank waren und deshalb nicht bei der Arbeit erschienen sind, muss man sich fragen, was möchte man? Dass Menschen krank zur Arbeit gehen, ihre Kolleginnen und Kollegen anstecken, sodass wir dann noch mehr Krankheitstage haben oder dass sie krank zur Arbeit gehen und dann eben länger in der Zukunft krank sind, weil sie sich eben nicht erholen und nicht gesunden.
Diese Studien kommen meistens von Arbeitgebern, also von denen, die ein Interesse daran haben, gegen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu wirken.
Klar ist, wir haben viele Krankheitstage. Unsere eigene Studie vom DIW Berlin zeigt, dass es sich vor allem um einen Anstieg von psychischen Krankheiten handelt, nach der Coronapandemie vor allem unter jüngeren Menschen. Das ist das wirklich Neue und da müssen wir in die Ursachenforschung gehen. Aber der erste Punkt ist, es gibt keine Evidenz dafür, dass Menschen blaumachen und wir deshalb so viele Krankheitstage in Deutschland haben.
Die meisten Wirtschaftsforschungsinstitute gehen davon aus, dass Deutschland auch 2025 weiter in einer Rezession bleiben wird. Ist nun die deutsche Wirtschaft krank oder sind es die deutschen Arbeitnehmer?
Wir sind mitten in einem Verteilungskampf, bei dem jeder gegen jeden kämpft - Arbeitnehmer gegen Arbeitgeber. Die Arbeitgeber erheben den Vorwurf, die deutschen Menschen sind faul, die müssten mal mehr arbeiten, die müssten mal wieder mehr Überstunden machen, man muss endlich mal die Spitzenverdiener steuerlich entlasten und Menschen mit geringem Einkommen sollen mal härter arbeiten.
Das ist nicht unbedingt neu, aber ein solcher Verteilungskampf ist kontraproduktiv. Er wird nicht zu einer wirtschaftlichen Gesundung führen. Wir müssen in Deutschland wieder stärker auf Solidarität setzen, auf Kooperation auch zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
Das muss doch im gemeinsamen Interesse der Beschäftigten, der Betroffenen, aber auch der Unternehmen sein, und nur so kommen wir aus dieser wirtschaftlichen Misere raus. Diese Stimmung, dieser Populismus, diese Mentalität, diese negative Stimmung, die führt uns eher noch tiefer in diese Krise hinein, und das ist wirklich keine Lösung.
Bedeutet die anhaltende Rezession noch mehr Verteilungskämpfe und mehr Angriffe auf die Arbeitnehmerrechte?
Erst einmal die gute Nachricht: Wir haben im Augenblick eine Rekordbeschäftigung von 46,1 Millionen. So viele gab es noch nie. Aber dieses Jahr wird in der Tat schwierig. Wir rechnen mit einem leichten Anstieg der Arbeitslosigkeit. Und dieser Verteilungskampf wird sich intensivieren.
Wenn man sich die Wahlprogramme der Parteien anschaut, geht es genau darum. Die einen wollen die Steuern für die Spitzenverdiener und vor allem für die Unternehmen senken und wollen Menschen mit geringen und mittleren Einkommen stärker belasten.
Bei den anderen ist es genau umgekehrt. Sie wollen die Sozialausgaben erhöhen, die Renten und anderen Ausgaben erhöhen. All das sind letztlich Verteilungskämpfe zwischen Arm und Reich, Jung und Alt.
Und im Augenblick erleben wir einen Wahlkampf, der von Populismus und überzogenen Versprechen geprägt wird, und da schwant mir nichts Gutes für die nächste Bundesregierung und für die nächsten Koalitionsverhandlungen.
2023 ist die Arbeitsproduktivität in Deutschland leicht gesunken, von 103 auf 102 Punkte - der EU-Durchschnitt liegt bei 100 Punkten, Frankreich auf 109, die Niederlande auf 111 Punkten. Deutschland galt als eines der produktivsten Länder. Woran liegt das, dass man diesem Ruf nicht mehr gerecht werden kann?
Das ist einer der entscheidenden Punkte. Bereits seit 20 Jahren steigt die Produktivität kaum. Und das ist eine der Ursachen für diese wirtschaftliche Schwäche, die wir im Augenblick haben.
Die Antwort liegt vor allem darin, dass Unternehmen seit 20 Jahren viel zu wenig in Innovationen investieren, zum Beispiel in die Digitalisierung von Prozessen. Da hinken auch mittelständische und kleine Unternehmen in Deutschland weit im internationalen Vergleich hinterher. Da müssen Unternehmen investieren, ihre Beschäftigten produktiver zu machen. Nur so können dann auch die Löhne wieder stärker steigen, die Nachfrage zunehmen und eben auch die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen verbessert werden.
Das Thema Produktivität ist der Schlüssel, und hier spiegeln sich eben die viel zu geringen Investitionen bei den Unternehmen, aber auch beim Staat, in eine gute Infrastruktur, in Forschung und Entwicklung, in das Bildungssystem. Das ist letztlich das Resultat einer riesigen Investitionslücke, die wir in Deutschland schon seit mehr als 20 Jahren haben.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Efthymis Angeloudis.