BVB-Fans bejubeln in der Kneipe "Intertank" einen Sieg ihres Vereins. (Foto: IMAGO / Jürgen Held)

Berlin Fußball als Fernbeziehung - Das Leben von Exil-Fans

Stand: 18.01.2025 11:37 Uhr

Nicht alle Fußball-Fans haben das Glück, in der Nähe ihres Lieblingsvereins zu leben. In Berlin ist die Exil-Quote besonders hoch, weshalb sich zig Orte gefunden haben, an denen Fans ihren Klubs von weit her zujubeln können. Zwei Abende unter Exil-Fans. Von Marc Schwitzky

Aus einer Statistik von 2017 ergibt sich: 53,8 Prozent der Berliner Bevölkerung ist gar nicht in Berlin geboren, sie wird immer mehr zu einer Stadt der Zugezogenen. Und nicht wenige der Neu-Berliner sind Fußball-Fans. Da viele von ihnen erst im Erwachsenenalter für das Studium oder den Beruf nach Berlin kommen, ist die Sache mit der Vereinswahl schon vor dem Umzug entschieden – Klubs wie Hertha BSC oder Union Berlin haben hier keine Chance mehr, sie werden zwecks neuer Sozialisierung allerhöchstens noch zur eher beliebigen Zweitliebe. Man muss im Büro ja mitreden können.
 
Doch da gibt es noch eine weitere Gruppe der Exil-Fans. Da es, auch aufgrund der gewaltigen Größe der Stadt, kein Fußballverein geschafft hat, Berlin flächendeckend und nachhaltig für sich zu erobern, hat sich eine nicht zu unterschätzende Zahl von gebürtigen Berlinern für keinen lokalen Klub entschieden, sondern wurde anderweitig fündig. Beide Gruppen von Exil-Fans ergeben eine solch gewaltige Gesamtgröße, dass das von Fluktuation so gezeichnete Berlin einem Phänomen beiwohnt, das in anderen Städten undenkbar wäre: Exil-Kneipen. Orte, an denen gleich mehrere Dutzende von Fußball-Fans, die geographisch von ihren Vereinen getrennt sind, zusammenkommen und die Spiele gemeinsam gucken.

Bier-Becher hängt am Zaun neben einer Fahne von Union Berlin (Quelle: IMAGO / Nordphoto)
"Es gab bis 1994 kein Union-Spiel, bei dem ich nicht besoffen war"
Zur Gruppe "Nüchtern betrachtet, mehr vom Spiel" haben sich Union-Fans zusammengeschlossen, die auf alkoholische Getränke verzichten. Gerade im Stadion keine leichte Sache, wo das Motto gilt: Fußball und Bier gehören zusammen. Von Gunnar Leuemehr

"Wat is' denn andribbeln?!"

So wie bei der ersten Station des Abends: Das "Intertank" in Kreuzberg, quasi direkt am Görlitzer Bahnhof – das Zuhause einiger Fans von Borussia Dortmund. Eine klassische Kneipe, in der noch geraucht wird und der Bierpreis in Ordnung geht. Das dunkle Lokal wird nur von ein paar Kerzen und dem Licht der TV-Bildschirme erleuchtet. Früher war hier mehr los, erzählt Amos, ein Mann mittleren Alters, der ein BVB-Trikot mit seinem Namen drauf trägt. Vor ein paar Jahren habe es sogar einen Türsteher gegeben, um den Laden nicht durch zu viele Gäste platzen zu lassen.
 
Am Dienstagabend zum Spiel gegen Holstein Kiel finden sich mit der Zeit rund 40 bis 50 Gäste ein. Es ist eine Mischung aus eher jüngeren Zuschauern, die einfach Fußball gucken wollen und älteren Gästen, die wirken, als wären sie mit dieser Kneipe bereits fest verwachsen wie die Crewmitglieder von Davy Jones aus "Fluch der Karibik" mit ihrem Piratenschiff. Es geht familiär zu, viele Gäste kennen sich und begrüßen sich herzlich per Umarmung. Während des Spiels, das in einer peinlichen 2:4-Niederlage für den BVB endet, hört man neben dem moderneren Fachsimpeln auch den alten Schlag Fan. "Wat is' denn 'andribbeln'?!", fragt eine BVB-Anhängerin in feinstem Pott-Dialekt, als der TV-Kommentator eine eher neuere Fußballvokabel bemüht.

Die Tür der BVB-Kneipe "Intertank" macht klar, welcher Verein hier zuhause ist. (Foto: rbb | Marc Schwitzky)

Die Tür der BVB-Kneipe "Intertank" macht klar, welcher Verein hier zuhause ist. (Foto: rbb | Marc Schwitzky)

Ein Schalker betreibt eine BVB-Kneipe

Die Stimmung kommt dem Stadion nahe. Es wird getrunken, geraucht, gepöbelt, gejuxt und geklatscht. Mit dem Anpfiff sind hier alle, ob bekannt oder fremd, eine schwarz-gelbe Einheit. Amos geht seit 2013 ins Intertank. Er ist gebürtiger Dortmunder, hatte gar keine andere Wahl als den BVB und früher auch eine Dauerkarte für die "Süd". Durch den Job ging es vor vielen Jahren nach Berlin, den Verein nahm er natürlich mit.
 
Als er nach einer Ersatzdroge für den Stadionbesuch suchte, fand er das Intertank. Betrieben wird die Kneipe von Ralf, genannt "Ralle" – ein Schalke-Fan. Ja, richtig gelesen. Ralf und sein älterer Bruder haben die Kneipe zusammen in den 1990er Jahren eröffnet und da der Bruder BVB-Fan ist, hat dieser sich hierarchisch mit seinem Verein durchgesetzt. Doch "Ralle" und die BVB-Gäste führen ein freundschaftliches Verhältnis. So ist das Intertank zu einer Heimat mit altem Charme für Borussia-Exilanten geworden.

Berliner Kegelsportler 1955 anlässlich des 70-jährigen Bestehens des Vereins Berliner Sportkegler in der Hasenheide
Kegelsport im Umbruch: In den Gassen Berlins
Geht es deutscher als Kegeln? Kaum. Aber die Vereine haben mit schwindenden Mitgliederzahlen zu kämpfen. Über eine Tradition und die Frage, ob sie sich neu erfinden muss. Von Shea Westhoffmehr

"Hier muss man sich nicht erklären"

Während das "Intertank" gezielt von den Besitzern zur Wiege für BVB-Fans wurde, hat das 15 BVG-Minuten entfernte "MP 3" in Friedrichshain eine andere Geschichte. Denn oftmals ist es so, dass Exil-Fans in Berlin so lange von Lokal zu Lokal hüpfen, bis sie sich wirklich wohlfühlen und niederlassen. So geschehen bei "BruchwegSehnsucht", einem Berliner Fanclub vom FSV Mainz 05. Das "MP 3" ist eine unscheinbare Bar, in der es neben Getränken auch Speisen gibt. Hier macht nichts den Anschein, als würden hier jede Woche 20-40 Fußballfans zusammenkommen. Einzig zwei Mainz-Fanschals haben sich regelrecht schüchtern hinterm Tresen verirrt. Ein kleines Zugeständnis vom Barbetreiber.
 
Leander und Emma kommen regelmäßig zu den Spielen ihres Vereins in das Lokal. Das junge Pärchen ist im vergangenen September für das Studium gemeinsam aus einem kleinen Vorort von Mainz ins große Berlin gezogen. Sie suchten nach sozialen Ankerpunkten – und fanden mit dem "MP 3" einen. Sie wurden schnell Teil der gemeinsamen WhatsApp-Gruppe des Fanclubs und sind mit den anderen Mitgliedern bereits zu Auswärtsspielen gefahren. "Hier trifft man sofort auf Gleichgesinnte und muss man sich nicht erklären", beschreibt Emma die wichtige soziale Komponente von Vereinszugehörigkeit.

Fans von Mainz 05 machen das "MP 3" jedes Wochenende zu ihrem Stadion (Foto: rbb | Marc Schwitzky)

Fans von Mainz 05 machen das "MP 3" jedes Wochenende zu ihrem Stadion (Foto: rbb | Marc Schwitzky)

Beim Dienstagabendspiel gegen Bayer Leverkusen sitzen in der Grünberger Straße rund 15 Mainz-Fans im Kegel vor dem Fernseher. Im starken Kontrast zu den eher feucht-fröhlichen BVB-Fans im "Intertank" wird hier nicht oberflächlich über das Geschehen auf dem Rasen zu gepoltert, sondern angeregt über Taktik und Personelles gefachsimpelt. Die Aura einer AStA-Sitzung. Vermutlich haben die FSV-Anhänger derzeit auch einfach die Ruhe weg, weil ihr Klub sportlich hervorragend dasteht. So wird auch die knappe 0:1-Niederlage gegen den amtierenden deutschen Meister gelassen hingenommen. Schade, aber in Ordnung. Hauptsache, man hat sich mal wieder gesehen.

Sie nennen ihn "Ente"

Unweit von den Neukölln Arcaden, wo sich elende Armut und Hipstertum alle paar Meter die Klinke in die Hand drücken, steht "Astra Stube". Eine Fußballkneipe, wie sie im Buche steht, vollbehangen mit Trikots und Schals, die wenigen Lücken an Wand und Decke werden von Stickern aller Art gefüllt. Das Lokal in der Weichselstraße wurde 2013 von St. Pauli-Fan Stefan gegründet. Er wollte eine Fußballkneipe mit Haltung – und das sieht man. Überall hängen Shirts und Schals mit klarer links-progressiver Botschaft. Stefan ist seine Haltung sogar so wichtig, dass er wirtschaftliche Wagnisse eingeht: aus Protest zeigte er in seiner Kneipe kein einziges Spiel der Weltmeisterschaft in Katar.
 
Die Kneipe ist am Mittwochabend sehr gut gefüllt. Es liegt der unverwechselbare Geruchsmix aus Zigarettenrauch und Bier in der dicken Luft. Es herrscht eine hohe Dichte an kurzgeratenen Matrosenmützen, Schnurrbärten und Vokuhilas. Wo St. Pauli draufsteht, ist auch St. Pauli drin. Bemerkenswert ist die im Vergleich zu anderen Fußballkneipen immens hohe Frauenquote – hier fühlen sich scheinbar alle wohl.

In der "Astra Stube" gibt es keinen Zentimeter ohne Fußball (Foto: rbb | Marc Schwitzky)

In der "Astra Stube" gibt es keinen Zentimeter ohne Fußball (Foto: rbb | Marc Schwitzky)

An einem großen Astra-Holzfass sitzt ein Mann mittleren Alters auf einem Barhocker. Im Neuköllner Kiez nennen sie ihn alle nur "Ente", erzählt er, mit einer Stimme, rauer als der Hamburger Wind. Als "alter Bier-Punk" charakterisiert er sich. Obwohl gebürtiger Berliner, ist er Mitte der 1990er Jahre zum FC St. Pauli gekommen. "Der Verein findet einen", erklärt er etwas mysteriös. Und "Ente" hat seine Heimat mittlerweile in der "Astra Stube" gefunden. Hier sei es nett, der Bierpreis fair. Die digitale Revolution habe er verpasst, weshalb er kaum noch an Stadiontickets käme und daher die Kneipe als Ersatz bemüht. Immer wieder stoppt das Gespräch, weil er Leute herzlich mit Umarmung begrüßt – man kennt sich hier.
 
St. Pauli spielt an jenem Abend gegen den VfL Bochum – ein knallhartes Abstiegsduell. Große Anspannung scheint "Ente" aber nicht zu verspüren. Die erste Liga sei ganz cool, sagt er. "Aber wir gehen auch in der dritten Liga hin." Dass die "Kiezkicker" die Partie letztendlich mit 0:1 verlieren, ist daher nicht so schlimm. Man kommt schließlich wegen der Leute in die Kneipe.

"Wenn Hertha und Union spielen, merkt man im Prenzlauer Berg nichts davon"

So geht es auch drei sympathischen Jungs, die es mit dem SV Werder Bremen halten. Sie begeben sich jedes Wochenende ins "Alois S." im Prenzlauer Berg. Das Lokal sieht von innen wie außen keinesfalls wie eine Fußballkneipe aus, ist regulär eigentlich eine Tapas-Bar. Gegründet wurde das "Alois S." von Larry Heer, einem Fan des FC Bayern München, der zunächst nur im Keller seines Lokals eine Fußball-Lounge anbot.
 
Doch mittlerweile wurde das Fußballschauen auf den Hauptsaal des Restaurants verlegt, dafür werden die Tische weggeräumt und mehrere Stuhlreihen aufgestellt. Es muss Platz für 60 bis 70 Werder-Fans gemacht werden. Vor knapp 20 Jahren kamen ein paar Bremer eher zufällig in das Lokal gestolpert und fragten Wirt Larry, ob er zukünftig die Spiele ihres Vereins fest zeigen könnte – dafür würden sie auch stets kommen und den Umsatz anregen.

Das "Alois S." von außen. (Foto: IMAGO / snapshot)

Das "Alois S." von außen. (Foto: IMAGO / snapshot)

Abgemacht und bis heute angehalten, denn seitdem hat sich das "Alois S." als Werder-Stammlokal einen Namen gemacht. Einst schickte die Werderaner Vereinsführung sogar als Dank für das Kümmern um die Exil-Fans eine Klubfahne, die von allen Bremer Spielern unterschrieben wurde. "Hier ist es nicht so assi, die Leute wollen Fußball schauen", beschreibt einer der Jungs die gelassenere Atmosphäre. Doch selbst die sonst eher nüchternen Nordler werden an jenem Abend beim hitzigen 3:3-Unentschieden gegen den FC Heidenheim schon beinahe zu einem cholerischen Chor. Verständlich.

Fußball ist mehr als das Gekicke auf dem Grün

Nach zwei Abenden in vier verschiedenen Exil-Kneipen ergibt sich eine klare Erkenntnis: Fußball ist viel mehr als das Gekicke auf dem Grün. Es ist Gemeinschaft, Zugehörigkeit, soziale Teilhabe und schlicht Heimat. Nicht alle Menschen haben den Luxus, in der Stadt zu leben, in der ihr Fußballverein verwurzelt ist. Leben passiert und du lebst auf einmal in einer Fernbeziehung mit deinem Klub oder die hiesigen geben dir emotional einfach nicht genug. Berlin kann sich groß, fremd und kalt anfühlen. Da ist es der wöchentliche Besuch der Fankneipe im Exil wie Nachhausekommen.

Sendung: