Medizinische und humanitäre Einsätze der Berliner Hilfsorganisation Cadus im Gazastreifen. (Quelle: Thorsten Schroer)

Berlin Berliner Hilfsorganisation über Einsatz in Gaza: "Wir bleiben, solange wir gebraucht werden"

Stand: 24.01.2025 16:57 Uhr

Seit Sonntag ist die Waffenruhe in Gaza in Kraft. Thorsten Schroer war als humanitärer Helfer für die Organisation Cadus mehrmals in Gaza. Er erklärt im Interview mit rbb|24, wie sich die Arbeit nun verändert hat und was die Menschen am dringendsten brauchen.

Seit Oktober 2023 herrscht im Gazastreifen Krieg. Ausgelöst wurde der Krieg durch den beispiellosen Überfall der Hamas auf Israel, bei dem mehr als 1.200 Menschen getötet und mehrere hundert in den Gazastreifen verschleppt wurden. Israel marschierte daraufhin in den Gazastreifen ein und bombardierte ihn aus der Luft. Bislang sind nach Angaben der Gesundheitsbehörde im Gazastreifen, die der Hamas untersteht, über 47.000 Menschen gestorben. Circa die Hälfte sollen Frauen und Kinder sein. International gibt es Kritik an israels Kriegsführung. Im Zuge des Krieges ist das Gesundheitssystem in Gaza fast vollständig zusammengebrochen und die meisten Krankenhäuser wurden zerstört.
 
Die Berliner Hilfsorganisation Cadus leistet seit Februar 2024 medizinische und humanitäre Hilfe im Gazastreifen. Thorsten Schroer war selbst mehrere Monate lang in Gaza im Einsatz. Er hat erlebt, wie es ist, als humanitärer Helfer in einem Kriegsgebiet zu arbeiten. Er erklärt, inwiefern sich die Arbeit von Cadus durch die Waffenruhe verändert hat und was die Bevölkerung Gazas am dringendsten benötigt.

rbb|24: Seit Sonntag ist die Waffenruhe im Gazastreifen in Kraft. Die Kämpfe zwischen der Hamas und Israel sind pausiert. Herr Schroer, sie waren selbst des Öfteren im Gazastreifen im Einsatz, was haben sie gefühlt, als klar war, diese Waffenruhe tritt nun tatsächlich in Kraft?
 
Thorsten Schroer: Es war eine große Erleichterung. An dieser Waffenruhe wurde sehr lange ohne große Fortschritte verhandelt. Als dann klar war, dass es einen Durchbruch gibt und ein Termin stand, war im ersten Moment vor allem viel Erleichterung da. Aber es hat sich auch sehr schnell dann das Gefühl eingestellt, dass das nur der erste Schritt sein kann. Klar, ein dringend benötigter Schritt, aber halt nur ein erster Schritt auf einem langen, steinigen Weg hin zu einem dauerhaften Frieden.

Medizinische und humanitäre Einsätze der Berliner Hilfsorganisation Cadus im Gazastreifen. (Quelle: Thorsten Schroer)

Fahrt eines medizinischen Evakuierungskonvois unter Leitung der WHO mit Ambulanzen vom PRCS (Palästinensischer Roter Halbmond) und CADUS durch Gaza Stadt auf dem Weg zum Kamal Adwan Krankenhaus in Dschabalia während der Belagerung Nord-Gazas im Oktober 2024.

Wie sah die Arbeit der Hilfsorganisation Cadus, für die Sie arbeiten, im Gazastreifen bis zum Beginn der Waffenruhe aus? Wie haben Sie inmitten dieses Krieges gearbeitet?
 
Wir sind seit Februar 2024 in Gaza und leisten medizinische Nothilfe. Wir haben vor allem in Trauma- und Stabilisierungspunkten und Notaufnahmen gearbeitet. Wir machen auch medizinische Evakuierungen – die sogenannten "med-evacs" - von Nord- nach Süd-Gaza und von Süd-Gaza an die Grenze zur weiteren Verlegung von Patienten in Drittstaaten, die spezielle Behandlungen brauchen oder chronische Erkrankung haben.
 
Diese Einsätze führen wir zusammen mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem palästinensischen roten Halbmond durch. In den letzten Monaten lag der Fokus vor allem auf medizinischen Evakuierungen von Nord- nach Süd-Gaza oder innerhalb Nord-Gazas.

Sie waren selbst für mehrere Monate im Gazastreifen im Einsatz und haben Krankentransporte von Nord-Gaza nach Süd-Gaza begleitet. Ist diese Arbeit, mitten in einem aktiven Kriegsgebiet, nicht wahnsinnig gefährlich?
 
Ja. Allein in Gaza zu sein, ist schon wahnsinnig gefährlich. Vor allem für die Bevölkerung dort. Aber auch humanitäre Helfer sind gefährdet, sowohl international als auch palästinensische humanitäre Helfer. Seit Beginn des Krieges sind über 300 humanitäre Helfer in Gaza getötet worden. Die Arbeit ist schon gefährlich, ja, aber sie wird dringend benötigt. Die Gefährdung für internationales Personal, auch wenn sie hoch ist, ist dennoch signifikant niedriger als für palästinensisches Personal.

Nun ist die Waffenruhe zwischen der Hamas und Israel in Kraft getreten. Wie verändert sie die Arbeit von Cadus im Gazastreifen?
 
Für unsere Organisation ist die direkte Veränderung nicht sonderlich groß. Im Moment teilt der von der israelischen Armee eingerichtete Netzarim-Korridor den Gaza-Streifen in Nord und Süd. Der Netzarim-Korridor ist de facto eine harte Grenze innerhalb Gazas. Es ist ein stark befestigter und vom israelischen Militär gehaltener Korridor mit lediglich 2 Checkpoints. Nur durch diese beiden Checkpoints führt der Weg von Nord nach Süd und von Süd nach Nord.
 
Dieser Korridor ist immer noch genauso undurchlässig, wie er vor der Waffenruhe war. Der Zugang nach Nord-Gaza ist für uns ist immer noch schlecht. Also hat sich für unsere Arbeit seit der Waffenruhe nicht sonderlich viel verändert. Aber wenn man das große Ganze anschaut, dann ist Gaza sicherer geworden. Bewegungen innerhalb Gazas und innerhalb der humanitären Zone sind viel sicherer und einfacher geworden. Wir können uns freier bewegen und es kommen mehr Hilfslieferungen rein.

Medizinische und humanitäre Einsätze der Berliner Hilfsorganisation Cadus im Gazastreifen. (Quelle: Thorsten Schroer)

Binnenflüchtlinge in Chan Junis im Juni 2024

Die größte Herausforderung ist es im Moment mit der Unsicherheit und den Erwartungshaltungen umzugehen. Wir haben auch palästinensische Angestellte, also Bürger von Gaza, die bei uns arbeiten. Die meisten kommen ursprünglich aus Gaza-Stadt und waren seit Monaten nicht mehr dort. Sie sind sehr angespannt und möchten dorthin zurück, um zu sehen, was aus ihren Häusern geworden ist, was aus Familie und Freunden geworden ist, zu denen sie den Kontakt verloren haben.

Sie sagen, sie haben durch die Waffenruhe mehr Bewegungsfreiheit gewonnen. Was hören Sie von ihren Kolleginnen und Kollegen? Wie ist die Situation vor Ort und welche Hilfe wird gerade am dringendsten gebraucht von den Menschen in Gaza?
 
Am dringendsten gebraucht wird einfach alles. Es bestätigt sich bisher das, was wir alle schon gesehen haben: Die Zerstörung in Gaza ist massiv. Auch in Bereichen, die bisher schlecht zugänglich waren. In 15 Monaten Krieg wurde immer wieder beschworen, wie massiv die Zerstörung Gazas ist. Das nutzt sich glaube ich ab bei vielen Leuten. Klar, es ist schwer zu verstehen, wenn man es nicht selbst gesehen hat. Weite Teile der großen Städte in Gaza sind völlig zerstört. In Chan Junis, in Gaza-Stadt und in Dschabalia sind ganze Nachbarschaften komplett verschwunden.

Medizinische und humanitäre Einsätze der Berliner Hilfsorganisation Cadus im Gazastreifen. (Quelle: Thorsten Schroer)

Zerstörungen in Chan Junis im Juni 2024 - jetzt Teil der „humanitären Zone“.

Allein die Beseitigung der Trümmer ist eine große Herausforderung, denn darunter liegen gegebenenfalls Blindgänger oder Leichen. Was die Bevölkerung wirklich braucht, ist ein belastbarer Frieden und nicht nur eine Waffenruhe. Es braucht einen Weg und einen Plan, wie es weitergeht. Es leben dort immer noch 2,3 Millionen Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen. Ich möchte dafür appellieren, dass man sich da kein falsches Bild macht. Eine Waffenruhe ist kein Frieden. Dass sich die Situation im Bereich der Nahrungsmittelversorgung gerade etwas entspannt, ist eine Momentaufnahme. Das kann sich innerhalb weniger Tage wieder verändern. Man muss sich vor Augen führen, wie abhängig Gaza von Lieferung von außerhalb ist. Die Grenzen werden von Israel und von Ägypten kontrolliert. Und damit ist die Bevölkerung Gazas komplett ausgeliefert für das, was an Hilfe oder an Gütern reingelassen wird. Es ist eine Atempause, aber nicht die Lösung. Es ist der kleine Anfang von einer Lösung, aber mehr noch nicht.

Herr Schröer, wagen wir einen gemeinsamen Blick nach vorne. Werden Sie sich noch mal in den Gazastreifen begeben und wie lange wird Cadus weiterhin im Gazastreifen im Einsatz bleiben?
 
Ich glaube, dass ich dieses Jahr noch mal nach Gaza gehen werde. Für Cadus gibt es noch keine konkrete Planung. Wir bleiben in Gaza, solange wir dort gebraucht werden. Das hängt natürlich von vielen Faktoren ab, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, aber wir als Cadus sind durchaus gewillt, so lange zu bleiben, wie wir dort ein Unterschied machen können.
 
Vielen Dank für das Gespräch.
 
Das Interview führte Yasser Speck für rbb|24.