Berlin Sprengung der Versöhnungskirche vor 40 Jahren: "Die Grenzer wollten freien Ausblick haben"
Am 22. Januar 1985 ließen die DDR-Behörden die Versöhnungskirche an der Mauer an der Bernauer Straße sprengen. Jörg Hildebrandt, Sohn des damaligen Pfarrers, erzählt vom Abschied und vom Wert der Erinnerung.
rbb|24: Herr Hildebrandt, die Versöhnungskirche am St.Elisabethkirchhof hatte den Krieg überstanden, ihre Kriegsschäden waren in den 1950er Jahren beseitigt worden. 1985 allerdings wurde die Kirche gesprengt. Sie haben ganz persönliche Verbindungen zu dieser Kirche. Wie ist Ihre Erinnerung an den Tag des Abrisses?
Jörg Hildebrandt: Meine Frau Regine (Anm. d. Red.: die 2001 gestorbene langjährige Brandenburger SPD-Politikerin) und ich wussten von dem Termin. Wir hatten erfahren, dass die Sprengung an diesem Tag im Januar 1985 stattfinden sollte. Regine war hier an der Bernauer Straße aufgewachsen. Und weil uns die Sprengungsankündigung so nah ging, haben wir gesagt: Wir gehen nicht hin. Das tun wir uns nicht an. Aber dann waren wir doch da. Ich war am Nachmittag der Sprengung so gegen 15 Uhr in Richtung Kirche aufgebrochen. Und Regine auch. Wir trafen uns zufällig, wirklich zufällig, in der damaligen Egon-Schultz-Straße, also an der Strelitzer.
Aber die Kirche stand zwischen den Mauern und der Bereich war doch von der Ostseite auch gar nicht mehr zugänglich, noch nicht einmal einzusehen, oder?
Abgeriegelt. An diesem Tag war alles hermetisch abgeriegelt von den Stasi-Leuten. Und von der Volkspolizei. Ringsum. Aber wir kannten Schleichwege. Wir waren sonst auch öfter mit den Kindern an der Hinterlandmauer bei der Kirche. Und bei diesem Versuch nun, zur Kirche zu kommen, haben wir uns dann auch ziemlich dicht dorthin getraut.
An der Rheinsberger, Ecke Strelitzer Straße standen wir dann. Aber weiter kamen wir nicht ran, und wir haben dann die Sprengung beobachtet. Für Regine war es ein ganz schlimmer, wirklich emotionaler Schock. Das machte ihr lange zu schaffen. Das war ja ihre Kirche. Sie ist dort getauft und eingesegnet worden. Und wir, Regine und ich, wir hatten uns dort kennengelernt, ich war ja der Pfarrerssohn. Ich habe dann die Sprengung vielleicht ein wenig anders verarbeitet, aber natürlich war auch ich traurig. Sehr, sehr traurig.
Zur Versöhnungskirche, die mit der Sprengung des Kirchenschiffs am 22. Januar 1985 und des Kirchturms am 28. Januar von den DDR-Behörden vernichtet wurde, konnten sie doch aber schon lange nicht mehr hin. Jahrzehnte. Die Kirche stand in Mitte, also im Osten, aber sie stand ja zwischen den Grenzmauern. Niemand aus der Gemeinde kam dort rein, oder?
Ja, die Kirche war bei ihrer Sprengung '85 eigentlich schon lange kein Sakralbau mehr. Geistliches Leben fand dort seit Oktober '61 überhaupt nicht mehr statt.
Mein Vater hatte hier nach dem Krieg eine Pfarrstelle bekommen, als er aus er aus der Gefangenschaft kam, 1950. Und hier haben wir, habe ich dann natürlich sehr intensiv auch die Trennung und Teilung der Stadt in Ost und West miterlebt. Ich hatte hier Regine kennengelernt, die nur ein paar Häuser entfernt wohnte. Die Versöhnungsgemeinde - das war für uns die bestimmende Kinder- und Jugendzeit. Dann wurde die Kirche '61 mit dem Mauerbau abgeriegelt. Zugemauert am 21. August. Am 13. August und auch am 20. August '61 hatten die Westberliner noch kommen können. Und sie kamen auch, denn schießlich bestand die Gemeinde zu etwa 90 Prozent aus Mitgliedern, die aus dem Westen kamen. Den letzten Gottesdienst hatten wir dann am 25. oder 26. Oktober gehabt. Dann war Schluss.
Keiner kam in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren mehr in die Kirche aus der Gemeinde?
Ich kannte Schleichwege. Über den Friedhof. Kam also heimlich in den letzten Wochen, also Anfang Dezember noch hin und wollte mit Regine, meiner Freundin damals, im Advent einen Stern an die Kirche hängen. Aber da wurden wir gefasst.
Dann also mehr als 20 Jahre nur noch aus der Ferne?
Genau. Und dann begann der Verfall. Für die Grenzposten war die Kirche ein Urinal, die Sakristei wurde zum Hundezwinger und der Turm diente als Gefechtsstand.
Auf den Friedhof, den Elisabethkirchhof, konnte man ja noch gehen, also nahe der Kirche sein...
Ja, aber die Gemeinde war verstreut, wer wollte, fand Anschluss in anderen Kirchengemeinden.
Wie haben sie dann von dem Abriss erfahren? In der Zeitung, im Radio, im Fernsehen war im Osten davon nichts zu erfahren.
Im Gespräch in der Kirche, in den Gemeinden, war der Abriss schon vor 1985 ein Thema. Und als mein Vater davon erfuhr, dass die Kirchenleitung in Ost und West durchaus für Abriss oder was auch immer war, hat er sich entschieden gewehrt. Den Termin 28. Januar, also die Sprengung des Turms, erfuhren wir dann über Westmedien, also SFB und RIAS. Die nun wiederum wussten das, weil die Ost-Grenzstreitkräfte natürlich den Berliner Senat und das Bezirksamt informieren mussten über die Gefahren der Sprengung - grob gesagt hätte der Turm ja auch auf die andere Seite fallen können.
Und wie lautete die Begründung, also die offizielle?
Diese offizielle Anordnung der DDR-Behörden sagt eigentlich alles. Aber die kann man nicht wiedergeben, das muss man ablesen. Begründet also wurde der Abriss mit der "Anwendung des Maßnahmenplans zur Durchführung von baulichen Aufgaben für die Erhöhung von Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit an der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik, Hauptstadt der DDR" - so lautete das SED-Undeutsch. Auf Deutsch: Alles weg für ein freies Sicht- und Schussfeld. Die Grenzer wollten freien Ausblick haben, weil ja auch immer wieder Fluchtversuche gemacht wurden.
Und die Fernsehbilder vom Abriss, die Aufnahmen davon in den Zeitungen - konnten Sie das verfolgen, es also sehen, davon hören oder lesen?
Das haben wir uns nicht angetan. Uns hat schon genügt, dass wir es da am Nachmittag erleben durften, nein: mussten. Da brauchten wir im Januar '85 nicht auch noch das Fernsehen bemühen. Wir haben Bilder davon sogar gemieden.
Für die Grenzposten war die Kirche ein Urinal, die Sakristei wurde zum Hundezwinger und der Turm diente als Gefechtsstand.
Nach dem Fall der Mauer, der Wende, wie schnell wurde es dann zum Thema, an die abgerissene Versöhnungskirche zu erinnern?
Die Devotionalien der Kirche waren verstreut, etwa der Altar oder was da noch übrig geblieben war. Aber: Ich bin dann im Dezember 1989 zur Kirchengemeinde im Westen gegangen, zum damaligen Pfarrer Martin Fischer, und habe den Vorschlag gemacht, beispielsweise die Glocken, die inzwischen bei der Bartholomäuskirche am Königstor standen, zurückzuholen und auf dem alten Gelände der gesprengten Versöhnungskirche aufstellen zu lassen. Aber eine Gedenkstätte zu errichten - so weit waren wir damals noch nicht.
Hinzu kam: An der Bernauer Straße, wo vorher das Zentrum der Gemeinde lag, stand ja kein Stein mehr auf dem anderen. Die alten Mietskasernen dort waren im sozialen Wohnungsbau in den 60er Jahren abgerissen und ersetzt worden. Da kamen keine Sentimentalitäten oder Reminiszenzen mehr auf. Da gab es einen Strich, einen Trennungsstrich. Die Zeit war vorbei.
Aber erinnert wird dort nun - an die Kirche, an den Abriss?
Es war halt eine ganz neue Zeit. Ich finde es gut, dass die Stiftung Berliner Mauer jetzt sehr intensiv eben auch an das Schicksal dieser Gemeinde erinnert.
Aber Sie, Herr Hildebrandt, haben ja dann auch einen wesentlichen Beitrag geleistet für die Erinnerung, indem sie sich dort für die alte Turmuhr eingesetzt haben.
Glocken und Uhr der Kirche sind mit dem Abriss nicht zertrümmert, sondern vorher ausgebaut worden. Mein Bruder Johannes war Pfarrer an der benachbarten Sophiengemeinde und hat dann die Uhr der Kirche in seine Gemeinde geholt in die große Hamburger Straße. Das nun wiederum war für mich etwas Besonderes, weil ich 1961, als wir raus mussten aus der Kirche, Uhrenwart der Kirche war. Dafür bekam ich damals ein kleines Taschengeld und hatte dafür zu sorgen, dass die Uhr pünktlich geht.
Mein letzter Akt, bevor wir 1961 auszogen dort, war es, rauf auf den Turm zu klettern und die Zeit auf fünf vor zwölf zu stellen. "Denkt an uns", sollte das auch Richtung West-Berlin heißen. Ja, da war Pathos dabei. Also: Ich war mit der Uhr sehr verbunden, und als dann Pfarrer Thomas Jeutner, der jetzige Pfarrer von Versöhnung, auf den Gedanken kam, die Uhr auch wieder nutzbar zu machen, war ich hellauf begeistert und habe mich dafür eingesetzt.
Was sind denn heute, 40 Jahre nach der Sprengung, vielleicht für Sie Auslöser, die die Erinnung an dieses Schicksal ihrer Gemeinde oder ihrer Kiche wachrufen?
Die Bernauer Straße mit ihrer Kirche - das war ein Schicksalsort für uns, denn die Straße war zwar damals nach dem Krieg geteilt - in Ost und West, das aber, dieses Blockdenken gab es für uns ja zunächst nicht: Westberliner und Ostberliner? Wir waren eine Gemeinde! Das war selbstverständlich. Und so sollten wir auch heute vieles betrachten, dass man sich also nicht trennen lässt, etwa durch extremistische Parteien.
Und ich habe noch eine Parallele. Am 22. Januar wurde das Schiff der Versöhnungskirche zerstört. Am 28. Januar 1985 dann fiel der Turm der Kirche. 40 Jahre vor dieser Sprengung, am 28. Januar 1945 war meine Mutter mit meinen beiden älteren Brüdern aus Königsberg bei grimmigem Frost geflohen - eine sehr dramatische aber erfolgreiche Flucht. Dann aber 40 Jahre später erleben zu müssen, wie die Kirche der Gemeinde in Schuss Schutt und Asche fällt - obwohl kein Krieg herrscht, ist für mich eine warnende und prägende Erinnerung.
Herr Hildebrandt, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Stefan Ruwoldt.
Sendung: rbb24 Abendschau, 19.01.2025, 19:30 Uhr