Sercan Dev.(Quelle:rbb/H.Daehler)

Brandenburg Berlin Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien an der Uni: "Ihr könnt das auch. Schaut mich an"

Stand: 14.04.2025 06:10 Uhr

Kinder aus Familien ohne akademischen Hintergrund beginnen immer noch seltener ein Studium als Kinder aus Akademikerfamilien. Oft fehlt es an Vorbildern. Sercan Dev und Stefanie Nandke haben es trotzdem geschafft. Von Helena Daehler und Christina Rubarth

Stefanie Nandke stapft in Gummistiefeln durch ein mit Havelkanalwasser geflutetes Feld. Ihre rechte Hand verschwindet kurz in der feuchten Erde. Die 35-Jährige promoviert in nachhaltiger Landwirtschaft – eine Bildungskarriere, die in ihrer Familie nicht vorgezeichnet war. Nicht weit von dem Feld, in dem sie steht, ist sie groß geworden: im kleinen Dorf Senzke, kurz vor Friesack im Havelland. Ihre Mutter lernte Malerin/Lackiererin, ihr Vater ist gelernter Maurer.

Zwei junge Menschen sitzen auf einem Zaun an einer Parkanlage in Schöneberg. (Foto: dpa/Wolfram Steinberg)
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"Mir wurde schon als Kind gesagt, dass ich ein ganz schlaues Mädchen bin, und in der Schule hörte ich, ich sei ein Streberkind." Daraus entwickelte sie ihr Selbstverständnis: "Okay, ja, ich komme aus einer Arbeiterfamilie, aber ich habe Köpfchen und kann eben auch studieren, wenn ich das möchte."
 
Nach dem Abitur ging sie als Au-pair in die USA, studierte anschließend Biologie in Berlin, ökologische Landwirtschaft in Kassel und machte schließlich ihren Master. Dass das ein Grund zum Feiern war, musste sie ihren Eltern erst erklären – die hatten das Gefühl, ihre Ausbildung dauere ewig. Sie lud alle zum Essen ein. Dass es Stefanie Nandke als Kind aus einem nicht-akademischen Elternhaus bis zur Promotion schafft, ist in Deutschland nach wie vor nicht selbstverständlich.

Nur 25 von 100 Kindern aus nicht-akademischen Elternhäusern an der Uni

Nur 25 von 100 Kindern aus nicht-akademischen Elternhäusern beginnen ein Hochschulstudium. Wenn mindestens ein Elternteil studiert hat, sind es dagegen 78 von 100. Das zeigen Berechnungen des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung.
 
Mit Blick auf die Abschlussquoten zeigt sich: Die Unterschiede beim Bachelor-Abschluss sind relativ gering - 82 Prozent der Studierenden aus Akademikerfamilien schließen erfolgreich ab, bei Kindern aus nicht-akademischen Haushalten sind es 76 Prozent. Allerdings schließen anteilig weniger von ihnen ein Masterstudium ab. Das belegt der Hochschul-Bildungs-Report 2022 des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft [www.hochschulbildungsreport2020.de].

Stefanie Nandke.(Quelle:rbb/C.Rubarth)

Stefanie Nandke mit Kind und Hund

Bachelordiplom im Wohnzimmer

Sercan Dev aus Friedrichshain studiert im Master Biologie und Geschichte auf Lehramt an der FU Berlin. Sein Bachelordiplom steht eingerahmt im Wohnzimmer.
 
"Das ist das Bachelorzeugnis von Sercan – mein ganzer Stolz. Und weil er der erste aus der Familie mit einem Universitätsabschluss ist, habe ich gesagt: Das wird eingerahmt", sagt seine Mutter Kerstin. Für sie selbst war ein Studium damals keine Option – es fehlte an Vorbildern – sie hat sich damals für eine kaufmännische Ausbildung entschieden. "Heute bereue ich diesen Schritt. Deshalb habe ich Sercan umso mehr ermutigt."

Das ist das Bachelorzeugnis von Sercan – mein ganzer Stolz. Und weil er der erste aus der Familie mit einem Universitätsabschluss ist, habe ich gesagt: Das wird eingerahmt

Sercans Vorbild: seine Geschichtslehrerin

Sercan hatte jedoch nicht nur familiären Rückhalt. Eine Lehrkraft gab ihm den entscheidenden Impuls, den akademischen Weg einzuschlagen: "Ich wäre nie an die Uni gegangen, wenn meine damalige Geschichtslehrerin nicht gewesen wäre. Sie hat mir Mut gemacht und mich motiviert." Alternativ hätte er sich auch eine Laufbahn bei der Polizei oder beim Hauptzollamt vorstellen können.
 
Im Uni-Alltag bemerkt Sercan Unterschiede zwischen Studierenden mit und ohne akademische Eltern: "Ich hatte mal einen Kommilitonen, dessen Vater seine Hausarbeit Korrektur gelesen hat. Da dachte ich mir: Ich könnte niemanden fragen." In Geschichtsvorlesungen habe er sich anfangs nicht getraut, Fragen zu stellen – aus Angst, sie könnten als "dumm" empfunden werden.

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"Es ist die Sorge, nicht dazuzugehören"

Barış Ünal, Leiter der Studienberatung an der TU Berlin, beobachtet bei Gesprächen mit Studierenden aus nicht-akademischen Familien häufig eine besondere Unsicherheit: "Es ist die Sorge, aufzufallen – etwas Offensichtliches nicht gewusst zu haben und damit preiszugeben, dass man eigentlich nicht dazugehört. Das stresst." Zugleich würden diese Studierenden auch im familiären Kontext mit vielen Fragen konfrontiert: "Bei einem Hochschulstudium ist oft nicht von vornherein ersichtlich, worauf es hinausläuft. Fragen wie: Wie lange dauert das noch? Oder: Bekommt man danach überhaupt einen Job? – auch das kann zusätzlich belasten", sagt Ünal, der sich auch als Kolumnist beim Tagesspiegel zu Bildungsthemen äußert.

Zwischen BAföG, Nebenjobs und Verantwortung

Stefanie Nandkes Eltern konnten sie inhaltlich nicht unterstützen, sagt sie: "Weil sie ja auch selbst nicht wussten, wie so ein Studium funktioniert." Ihre Forschungsfelder liegen heute in der Nähe ihres Heimatortes Senzke. Dort steht das von ihren Eltern selbst gebaute Haus. Viele Kinder im Ort folgen dem Vorbild ihrer Eltern: beginnen eine Ausbildung, verdienen schnell eigenes Geld. Aber dass ihre Tochter in einer klassischen Lehre nicht glücklich werden würde, war ihren Eltern früh klar, sagt ihre Mutter Verena Kunz: "Wir sind beide vom Bau – mein Mann ist Maurer, ich habe Malerin gelernt. Irgendeine Lehre, so wie wir beide, das wäre für Stefanie nichts gewesen."

Sie hat ja ihren Weg gefunden. Also da können wir nicht jammern – sind soweit super zufrieden.

Stefanie hat sich mit BAföG über Wasser gehalten. Sercan Dev arbeitete nebenbei – in einem Supermarkt, als Hauswart oder als Fahrer bei einem Essenslieferdienst. Auch zwischen Abitur und Studienbeginn war er berufstätig. Das verdiente Geld nutzte er nicht nur für sich: Er finanzierte seiner Mutter und seiner Schwester, mit denen er zusammenwohnt, und sich selbst einen Urlaub in der Sonne. Eine Reise, die sich seine Mutter sonst nicht hätte leisten können.

Studium und Job: Keine Seltenheit

Mit 67 Prozent arbeiten Studierende aus nicht-akademischen Elternhäusern häufiger neben dem Studium als ihre Kommiliton:innen aus Akademikerfamilien – von denen sind es 60 Prozent. Das zeigt die Studierendenbefragung 2021. Auffällig ist, dass sich die Gründe unterscheiden. 68 Prozent der nicht-akademischen Studierenden arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Bei den anderen sind es nur 50 Prozent.

Kerstin und Sercan Dev.(Quelle:rbb/H.Daehler)

Sercan mit seiner Mutter Kerstin

Barış Ünal wünscht sich bessere Unterstützung – auch finanziell – für sogenannte Erstakademiker:innen: "Diese Leute fallen eventuell durch Raster, etwa bei Stipendienprogrammen. Da könnten wir uns viel stärker engagieren." Außerdem plädiert er für Programme, bei denen Talentscouts in die Schulen gehen, um Schüler:innen unabhängig vom Bildungshintergrund beim Übergang zur Hochschule zu begleiten.

Mut zur Vorbildrolle

Als Lehrer möchte Sercan nun selbst andere Arbeiterkinder inspirieren: "Ihr könnt das. Auch wenn ihr die Ersten aus der Familie seid – schaut mich an! Auch wenn ihr keine Vorbilder im Umfeld habt, die studiert haben." Und Stefanie? Sie will nun ihren Mann motivieren: "Dass er sich vielleicht auch nochmal traut, zu studieren." Ihr Vater, Eckhard Kurz, sieht die Entwicklung seiner Tochter ganz pragmatisch: "Sie hat ja ihren Weg gefunden. Also da können wir nicht jammern – sind soweit super zufrieden."

Sendung: rbb24 Brandenburg aktuell, 14.04.2025, 19:30 Uhr