
Brandenburg Selbstversuch: Mit dem Heimwegtelefon nachts durch Brandenburg
Viele Menschen fühlen sich nachts allein auf dem Heimweg unsicher. Ein kostenloser Anruf beim Heimwegtelefon kann helfen, das subjektive Sicherheitsgefühl zu verbessern. Wir haben es getestet. Von Juliane Gunser
Es ist spät. Die Straßen sind leer, die wenigen trüben Laternen werfen lange Schatten. Außer mir ist hier kaum jemand unterwegs. Ich bin mitten in Brandenburg: in Götz, einem kleinen Dorf im Landkreis Potsdam-Mittelmark, das an der RE1-Stecke liegt. Für meinen Selbstversuch habe ich mir den Weg vom Bahnhof Götz bis zur Ortsmitte ausgesucht. Noch direkt am Bahnhof wähle ich die Nummer des Heimwegtelefons. Nach zweimal Klingeln hebt Melina ab. Sie klingt fröhlich.
Melina belehrt mich zuerst kurz über den Datenschutz, dann stellt sie mir ein paar Fragen. Neben meinem Namen und Alter interessiert sie vor allem mein aktueller Standort und mein Ziel. Sie verwickelt mich in ein lockeres Gespräch über meinen Tag und meine Hobbies. Dann will ich testen, wie sie auf mögliche Angst reagiert: "Hier ist es sehr gruselig. Es gibt nur ein paar Straßenlaternen und rechts von mir sind dunkle Gärten", sage ich. Sie reagiert sofort: "Verstehe. Atme erstmal tief durch, wir schaffen das zusammen."

Heimwegtelefon
Was ist das Heimwegtelefon?
Das Heimwegtelefon ist ein ehrenamtlicher Service, der Menschen auf ihrem Heimweg telefonisch begleitet – bis sie sicher zu Hause angekommen sind. Gestartet wurde das Projekt 2013 in Berlin. Vorbild war das Heimwegtelefon in Schweden. "Es wendet sich an diese kleine Nische, die aber ganz, ganz wichtig ist. Dieses Unterwegssein in einer Situation, in der ich mich nicht wohlfühle. Damit nicht allein sein, sondern begleitet werden", sagt Daniel. Er ist einer von vielen ehrenamtlichen Telefonist:innen, die in ihrer Freizeit als Heimwegbegleiter aus der Ferne arbeiten. Das Angebot wende sich zunächst an alle, sagt Daniel weiter.
Auf der Webseite des Heimwegtelefons weist der Verein auf den verantwortungsvollen und fairen Umgang mit dem Angebot hin. Nicht genutzt werden soll die Hotline beispielsweise aus Langeweile oder Einsamkeit. Es wird auch darum gebeten, die Anrufe nicht unnötig in die Länge zu ziehen oder bei langen Wegen möglicherweise nur für bestimmte Abschnitte anzurufen – sodass die Leitungen möglichst schnell wieder für diejenigen frei sind, die sich wirklich unsicher fühlen, Angst haben und Unterstützung brauchen.
"Siehst du eine Hausnummer? Oder bist du jetzt schon an der Hauptstraße?"
Die derzeit mehr als 100 Helferinnen und Helfer am anderen Ende der Leitung begleiten den Weg der Anrufenden virtuell. Dazu geben sie Start und Ziel in ein Kartensystem ein und erfragen im Laufe des Gesprächs immer wieder gezielt den genauen Standort ab. So werde ich geortet. Etwa alle drei Minuten bittet mich Melina, meine Umgebung zu beschreiben. "Siehst du eine Hausnummer? Oder bist du jetzt schon an der Hauptstraße?", fragt sie mich.
Hausnummern sind für mich in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Außer düsteren Einfahrten zu den Gärten und den Sternen über mir erkenne ich kaum etwas. Aber einige Meter weiter entdecke ich einen Straßennamen. Melina scheint etwas mit meiner Beschreibung anfangen zu können. Am Telefon höre ich sie tippen, dann sprechen wir über Sternbilder.

Was, wenn wirklich mal etwas passiert?
Sollte es auf dem Weg zu einem gesundheitlichen Notfall oder zu einer akuten Gefahrensituation kommen, können die Heimweg-Helferinnen und -Helfer die Polizei oder den Rettungsdienst alarmieren und sie gezielt an den richtigen Ort schicken. Je nach Situation bleiben sie dann bis zum Eintreffen der Rettungskräfte zur Unterstützung am Telefon. "Zum Glück kommt das aber nur sehr selten vor", sagt Telefonist Daniel. Er habe schon die ein oder andere brenzlige Situation begleitet, in den meisten Fällen gehe es aber eher um ein gutes und sicheres Gefühl für die Anrufer:innen.
Um den Herausforderungen in diesem speziellen Ehrenamt gewachsen zu sein, durchlaufen die Helfer:innen eine theoretische und praktische Ausbildung. Sie lernen, worauf es bei der Gesprächsführung ankommt, wie sie die technischen Tools wie das Kartensystem bedienen und wie sie mit heiklen Situationen und Themen umgehen können. Nach drei bis sechs Monaten und wenn sich die neue Ehrenamtlerin oder der neue Ehrenamtler bereit fühlt, beginnt die Arbeit am Telefon.
Viel Ablenkung – keine Zeit für Paranoia
Etwa 20 Minuten bin ich alleine, aber mit Melina an meinem Ohr durch Götz gelaufen. Auf dem Weg sind mir kaum Menschen begegnet, außer einem Pärchen, das seinen Hund Gassi geführt hat und zwei Autos, die auf dem Weg zum Bahnhof zu sein schienen. Unser Gespräch hat mich ziemlich von der Gesamtsituation abgelenkt. Ich hatte jedenfalls keine Zeit, Paranoia zu entwickeln und hinter jedem dunklen Gebüsch etwas Böses zu wittern.
Am Ende fragt Melina: "Fühlst du dich sicher genug, ab jetzt allein zu bleiben?" Da ich am Ende meines Heimwegtelefon-Tests angekommen bin, verabschiede ich mich. Und irgendwie fühlt es sich verdammt gut an, dass sie ganze Zeit ganz genau wusste, wo ich bin.
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