blaue Visa-Karte

Hessen Bezahlkarte für hessische Geflüchtete ist eingeführt - oder doch nicht?

Stand: 05.06.2025 10:03 Uhr

Sie war ein Lieblingsprojekt von Ministerpräsident Rhein: Die Bezahlkarte für Geflüchtete ging vor einem halben Jahr an den Start. Inzwischen verkauft die Landesregierung die Einführung als abgeschlossen. Doch es hakt noch immer - und das System wird unterwandert.

Von Christoph Scheld

Tausche Gutscheinkarte gegen Bargeld: So einfach hebelt man den Staat aus. Und das ist nicht einmal illegal – jedenfalls bis jetzt nicht. Was im Exchange Café Heinersyndikat in Darmstadt-Bessungen vor sich geht, verstehen Aktivisten wie Sandro Thalmann als einen Akt des zivilen Ungehorsams: Sie helfen Geflüchteten dabei, die Bezahlkarte zu umgehen.

Das Prinzip: Asylsuchende gehen mit ihrer Bezahlkarte zum Supermarkt, Discounter oder Drogeriemarkt und kaufen sich dafür eine Gutscheinkarte. In Tauschbörsen wie hier in Darmstadt tauschen sie die Karte dann gegen Cash. Sympathisanten der Idee wiederum bringen Bargeld in die Wechselstube und nehmen den Gutschein mit - ein geschlossener Kreislauf.

Sandro Thalmann gehört zum Bündnis "Darmstadt sagt Nein zur Bezahlkarte". Er und seine Mitstreiter betrachten diese als Instrument der Entrechtung, weil "Menschen nicht mehr über das Geld, das ihnen zusteht, frei verfügen können".

Sandro Thalmann und Dorothea Köhler von der Initiative "Darmstadt sagt Nein zur Bezahlkarte".

Sandro Thalmann und Dorothea Köhler von der Initiative "Darmstadt sagt Nein zur Bezahlkarte".

Der Landesregierung gefallen die Tauschorte dagegen überhaupt nicht - ist die Bezahlkarte doch eines der Lieblingsprojekte von Ministerpräsident Boris Rhein (CDU).

Schon im Landtagswahlkampf hatte er damit geworben und die Karte dann als Plan in den schwarz-roten Koalitionsvertrag verhandelt. Als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz pochte er auf eine bundesweit einheitliche Lösung. Diese kam so zwar nicht, für Hessen aber konnte Rhein kurz vor Weihnachten Vollzug melden.

Die Bezahlkarte werde "zur Begrenzung der irregulären Migration einen Beitrag leisten und die Prozesse vereinfachen", so Rheins Versprechen im Dezember 2024. Doch schnell regte sich Widerstand.

Tauschbörsen in ganz Hessen

Tauschbörsen wie in Darmstadt entstehen in ganz Hessen: von Witzenhausen (Werra-Meißner) bis Gießen, von Idstein bis Frankfurt. Unter dem Label "Hessen sagt Nein" haben sich viele Akteure versammelt. Einzelpersonen, Organisationen aus der Flüchtlingshilfe wie Sea Eye Frankfurt, in Darmstadt ist die Linkspartei dabei, auch der Hessische Flüchtlingsrat unterstützt die Tauschbörsen.

Rechtlich gibt es, zumindest bislang, keine Handhabe dagegen vorzugehen. Die Bundesregierung sei am Zug und wolle eine Rechtsgrundlage schaffen, heißt es aus dem hessischen Sozialministerium. Dort sieht man die Bezahlkarte insgesamt als Erfolg. Wo Hessen allerdings bei der Einführung der Bezahlkarte wirklich steht, ist eine Frage der Perspektive.

Landesregierung: 4.000 Karten ausgegeben

"Die Einführung der Bezahlkarte ist in der Erstaufnahmeeinrichtung abgeschlossen", sagt Sozialministerin Heike Hofmann (SPD) im Interview mit dem hr-Landtagsstudio. 4.000 Karten habe man ausgegeben. "Damit ist landesseitig in der Erstaufnahmeeinrichtung die Ausgabe der Bezahlkarte abgeschlossen." Soweit, so korrekt. Trotzdem klagen viele hessische Kommunen, die Einführung der Karte komme überhaupt nicht voran. Wie passt das zusammen?

Hofmann packt in ihr Statement geschickt zwei Einschränkungen: die Begriffe "landesseitig" und "Erstaufnahmeeinrichtung". Denn nur dort ist die Einführung der Karte wirklich "abgeschlossen". Das Land hat also geliefert - an den Standorten, für die es selbst zuständig ist. Auf kommunaler Ebene sieht es dagegen anders aus.

Viele Kommunen liegen im Zeitplan zurück

Insgesamt sind in Hessen 27 Stellen damit beschäftigt, die Leistungen an Asylbewerber auszuzahlen. Neben dem Land selbst sind das die 21 Landkreise und die fünf kreisfreien Städte. Sie alle waren vom Land aufgefordert worden, die Karte im ersten Quartal 2025 einzuführen. Doch nicht einmal die Hälfte hat es geschafft. Die meisten sind selbst für das Ende des zweiten Quartals skeptisch, 18 mussten beim Land eine Fristverlängerung beantragen.

Darmstadt ist eine der Kommunen, die die Bezahlkarte noch nicht eingeführt haben. Bürgermeisterin Barbara Akdeniz (Grüne) ist auch Sozialdezernentin der Wissenschaftsstadt und begründet die Verzögerung damit, dass eine technische Schnittstelle fehle. So müssten Daten händisch eingetragen werden - ein Verwaltungsaufwand, "den wir nicht akzeptieren können", sagt Akdeniz dem hr.

Kritik aus Darmstadt: "Millionenbeträge ausgegeben"

Die Bürgermeisterin macht keinen Hehl daraus, dass sie persönlich wenig von dem Konzept Bezahlkarte hält. Geflüchtete müssten selbstbestimmt leben können mit dem, was der Staat ihnen zuteile. Gleichwohl müsse sich die Kommune an die Weisung des Landes halten und werde das auch tun, wenn auch ohne viel Begeisterung.

Für die Bezahlkarte würden "Millionenbeträge ausgegeben", kritisiert Akdeniz. "Gleichzeitig wissen wir, dass Integrationskurse reduziert oder gar gestrichen werden". Wie hoch die angeblichen Millionenbeträge genau ausfallen, kann das Land bislang nicht beziffern.

Auch im Main-Kinzig-Kreis stockt die Einführung der Bezahlkarte - und auch dort fehle nach wie vor die technische Schnittstelle, wie der Kreis auf hr-Anfrage mitteilt. Man habe auch keinen Einfluss auf die technische Anbindung, da die Problemlösung in der Hand und Verantwortung des Unternehmens für die Kartendienste liege.

Fulda sieht wenig Aufwand

Problemlos läuft es dagegen offenbar im Landkreis Fulda, den der Ministerpräsident als vorbildlich lobt. Die besagte Schnittstelle gibt es zwar auch dort nicht, trotzdem hat der Kreis die Bezahlkarte eingeführt - im ersten Quartal und weitgehend "unspektakulär", sagt Landrat Bernd Woide (CDU).

Man habe sich in Osthessen eben nicht lange mit der Frage aufgehalten, ob die Karte nun der "Gamechanger der Migrationspolitik" sei oder nicht, erklärte Woide. Dazu sei die Verwaltung nicht da. "Wir haben es nicht politisch gesehen", so der Landrat. "Wir haben es halt angepackt."

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Fulda weniger Fälle zu bearbeiten hat als beispielsweise Darmstadt - ein Argument, das der Landrat aber nicht gelten lassen will. Überstunden und Mehraufwand habe es auch hier gegeben, aber keine direkten Kosten, da die Arbeit von den Mitarbeitenden der Kreisverwaltung geleistet worden sei. Der Übertrag von Hand habe keinen unverhältnismäßigen Aufwand bedeutet.

Flächendeckende Einführung dürfte noch Monate dauern

Nun seien die Geflüchteten im Landkreis Fulda mit der Karte ausgestattet. Wer in Zukunft komme, der werde ja meist aus der HEAE zugewiesen und bringe seine Karte schon mit.

Bis alle Kreise die Bezahlkarte eingeführt haben, dürften noch Monate ins Land gehen. Viele Kommunen hoffen, dass das Thema bis zum Jahresende vom Tisch ist.