Eine Mutter und ihre Tochter geben unkenntlich gemacht ein Interview.

Niedersachsen Hilfe bei Gewalt: Beratungsstelle in Osterholz schließt

Stand: 29.05.2025 13:59 Uhr

Jeden Tag erleben laut Bundeskriminalamt 54 Kinder in Deutschland sexuelle Gewalt. Hilfe finden sie auch in Beratungsstellen. Dass im Landkreis Osterholz eine solche Stelle bald schließt, macht Betroffene und Experten ratlos.

Von Christopher Haar

Es ist ein geschützter Ort mitten in der Stadt. In einem Fachwerkhaus in Osterholz-Scharmbeck befindet sich die Beratungsstelle gegen Gewalt und sexualisierte Gewalt des Vereins SOS Kinderdorf. Außen hängt nur ein kleines, grünes Schild. Wer nicht weiß, was sich hinter den Fenstern im Obergeschoss befindet, muss schon genau hinschauen. Und das ist auch so gewollt. Denn, wer hier in die Fachberatung geht, soll dies anonym tun können. Doch Ende Juni wird das unabhängige Angebot eingestellt.

Betroffene: "Das war ein Zufluchtsort für mich"

Die 17-jährige Sophie kommt seit zweieinhalb Jahren regelmäßig in die Beratungsstelle. Ihr Name wurde aus Opferschutzgründen geändert. Sophie habe mit 13 Jahren einen sexuellen Übergriff durch einen anderen Jugendlichen erlebt, sagt sie. Von einer Polizeibeamtin bekommt sie den Tipp, sich zur Unterstützung in der Beratungsstelle des SOS Kinderdorf Vereins zu melden. Es dauert einige Zeit, aber dann geht sie gemeinsam mit ihrer Mutter diesen Schritt: "Am Anfang hatte ich Schamgrenzen. Es war sehr schwer, aber ich habe es geschafft, mich dort zu öffnen", erzählt die 17-Jährige, "das war ein Zufluchtsort für mich."

Ausweg aus der Gewalt

Sophie und ihre Mutter kommen wöchentlich: "Ich konnte da sprechen, ohne Angst zu haben", sagt die Jugendliche. Jeder Schritt wird von der Fachberaterin begleitet. Die Staatsanwaltschaft Verden ermittelt in dem Fall, stellt das Verfahren gegen den Beschuldigten aber ein. Die Begründung: Eine strafbare Handlung sei nicht nachweisbar. Für die Familie ein Schock. Auch hier hilft die Beratungsstelle, damit umzugehen. Auch der 17-jährige Jonas findet dort Unterstützung und einen Ausweg aus psychischer Gewalt. Anfangs will er gar nicht zur Beratung: "Meine Eltern haben mich da angemeldet", sagt er. "Ich hab mir erst gedacht: Muss das sein?"

Ein unkenntlich gemachtes Opfer sexueller Gewalt gibt ein Interview.

Jonas hat psychische Gewalt erlebt und deshalb die Fachberatungsstelle in Osterholz aufgesucht.

Betroffener: "Ich bin sehr dankbar"

Jonas erzählt von einer toxischen Beziehung. Aber obwohl er angeschrien, unter Druck gesetzt, beschimpft wird, hängt er darin fest. Bis seine Eltern ihn davon überzeugen, sich gemeinsam Hilfe in der Gewaltschutzstelle zu holen. Er habe sich wie ein "Problemkind" gefühlt, aber dann schnell Vertrauen gewonnen: "Ich bin sehr dankbar, weil ohne die Beratung wäre ich noch immer in demselben Loch und bin dankbar, weil sie mir sehr geholfen haben." Er würde jedem empfehlen, eine solche unabhängige Beratung aufzusuchen.

254 Beratungen zu sexualisierter Gewalt allein 2024

Das Angebot der Fachberatungsstelle von SOS Kinderdorf ist vielfältig - angepasst auf die Gewaltformen, die Kinder und Jugendliche erleben. Die beiden Sozialpädagoginnen vor Ort haben jahrelange Erfahrung und viel Expertise. Allein 2024 fanden dort 254 Beratungstermine zu sexualisierter Gewalt statt. Betroffene und Angehörige, aber auch Lehrkräfte, Ärzte, Vereine oder Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendhilfe nutzen die Beratungsstelle als Unterstützungsangebot. Tanja Meyer hat selbst mal für den Verein SOS Kinderdorf gearbeitet. Heute berät sie freiberuflich Institutionen und Vereine zum Thema sexualisierte Gewalt. 

Realität zeigt: Man braucht mehr Angebote

Dass die unabhängige Stelle im Landkreis Osterholz Ende Juni wegfällt, hält Tanja Meyer für einen Fehler: "Ich bin erschüttert, dass es so weit gekommen ist, weil somit Bürgerinnen und Bürger des Landkreises keine Möglichkeit mehr haben, sich in diesem Bereich anonym und unabhängig beraten zu lassen." Die Realität zeige, dass eher mehr als weniger Beratungsangebote gebraucht würden: "Man sieht bundesweit steigende Fallzahlen und es ist eher so, dass insgesamt Fachberatungsstellen eher eröffnet werden. In unserem Landkreis wird eine Fachberatung geschlossen, ich finde da gar keine Worte dafür", sagt die Expertin. Dass die Zahl der Missbrauchsfälle seit Jahren steigt, wie auch die Ermittlungsverfahren wegen Kinderpornografie, zeigt die aktuellste Statistik des Bundeskriminalamts. Und das ist nur die Fälle, die den Behörden bekannt sind. 

Inhaltliche und finanzielle Gründe für Schließung der Fachberatung

Dass die unabhängige Fachberatungsstelle im Landkreis Osterholz schließt, hat laut dem Betreiber, dem SOS Kinderdorf Worpswede, vor allem inhaltliche Gründe. In der Einrichtung von Leiterin Annika Ziemann werden fast 400 Kinder in Kita, Krippe und Hort, sowie 110 Kinder und deren Familien durch ambulante Hilfe betreut. Für diese Klienten sei ihre Beratungsstelle aber nicht unabhängig, betont Annika Ziemann. Der Verein schreibe verbindliche Verfahrenswege vor: "Da sind wir dran gebunden in Gefährdungseinschätzung eben externe Beratungsstellen auch für uns in Anspruch zu nehmen. Und wenn unsere Kolleginnen und Kollegen eben diese Fachberatungsstellen betreiben, haben wir diese Möglichkeit nicht", sagt Ziemann. Daher gibt der Verein die Verantwortung jetzt ab - an eine Behörde, das Jugendamt des Landkreises Osterholz. Hinzu kämen finanzielle Gründe, so die Leiterin.

Annika Ziemann ist Leiterin des SOS Kinderdorf in Worpswede

An das SOS Kinderdorf angegliederte Beratung ist für einige Menschen nicht unabhängig, erklärt Leiterin Annika Ziemann.

Landkreis Osterholz: "Springen in die Bresche"

Heike Schumacher ist im Landkreis Osterholz Sozialdezernentin und erste Kreisrätin. Sie nennt die Übernahme der Fachberatung durch das Jugendamt ein "in die Bresche springen". Die Zusammenarbeit mit dem SOS Kinderdorf sei stets verlässlich und kompetent gewesen. Die Entscheidung der Organisation, die Beratung abzugeben, respektiere der Landkreis. Heike Schumacher war als Kommunalvertreterin auch Teil der Aufarbeitungskommission rund um die massiven Missbrauchsfälle auf einem Campingplatz in Lügde. Da auch in einem niedersächsischen Jugendamt massive Fehler passierten, sollte die Kommission die vorhandenen Strukturen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen kritisch analysieren und Jugendämtern Empfehlungen an die Hand geben, wie "strukturelle Fehler in Zukunft minimiert werden" können. Ein Ergebnis: ein flächendeckendes Angebot von Beratungsstellen für Betroffene, auch außerhalb staatlicher Strukturen.

Sozialdezernentin Heike Schumacher (parteilos) im Gespräch mit dem NDR

Das Jugendamt übernimmt die Aufgaben der Beratungsstelle, erklärt Osterholz' Kreisrätin Heike Schumacher.

Kein Widerspruch zwischen Empfehlungen und Wegfall

Für Heike Schumacher stellt es dennoch keinen Widerspruch zur Empfehlung der Lügde-Kommission dar, wenn Ende Juni die unabhängige Fachberatung schließt. Denn das Jugendamt übernehme die Aufgaben: "Der Lügde-Kommission ging es nicht darum, dass man bestimmte Organisationsformen vorsieht, sondern dass man Stellen eng verzahnt mit der öffentlichen Jugendhilfe", sagt Schumacher. Im Landkreis Osterholz und auch darüber hinaus sehen das nicht nur Betroffene anders.

Rotenburg (Wümme): Anonyme Anfragen steigen

Im Nachbar-Landkreis Rotenburg (Wümme) sind die Auswirkungen schon jetzt zu spüren, zum Beispiel in der Fachberatungsstelle Wildwasser, deren Träger das Diakonische Werk ist. Hier steigen die anonymen Beratungsanfragen aktuell. Fachberaterin und Psychologin Katja Mevenkamp beobachtet diese Entwicklung seit Bekanntwerden der Schließung in Osterholz. Und sieht Ähnlichkeit zu einer Situation vor 2021. Damals gab es im Landkreis Osterholz auch keine unabhängige Fachberatungsstelle. Die Geschäftsführerin des Diakonischen Werkes in Rotenburg findet deutlich Worte: "Es ist eine große Betroffenheit, aber auch ein Quäntchen Wut, weil ich ja sehe, wie notwendig die Beratungsstelle ist", sagt Angela Hesse und stellt die Frage: "Wer soll das denn auffangen?"

Angela Hesse: "Unabhängigkeit ist wichtig"

Die Jugendämter in Niedersachsen leisten viel. Die Arbeitsbelastung ist hoch. Das Jugendamt im Landkreis Osterholz hat rund 90 Mitarbeitende: "Auch wir haben eine hohe Arbeitsbelastung", sagt Sozialdezernentin Heike Schumacher, "wir sehen uns aber durchaus in der Lage, unserem Auftrag gerecht zu werden." Das sei auch so, wenn zeitweise etwas dazukomme. Die Verantwortung für Kinderschutz habe man immer. Geschäftsführerin Angela Hesse vom Diakonischen Werk nimmt in ihrer Arbeit noch oft Vorbehalte gegen staatliche Behörden - auch gegen Jugendämter - wahr, gerade wenn es um sexualisierte Gewalt gehe. "Das Jugendamt ist das, wo gerade Betroffene nicht hingehen würden, weil sie Angst haben", sagt die Fachkraft. Deshalb findet sie flächendeckend auch ein unabhängiges Beratungsangebot wichtig.

Angela Hesse ist Geschäftsführerin des Diakonischen Werkes Rotenburg (Wümme).

"Das Jugendamt ist das, wo gerade Betroffene nicht hingehen würden", sagt Expertin Angela Hesse

Beobachten, evaluieren, auswerten

Im Landkreis Osterholz hat Sozialdezernentin Schumacher einen klaren Fahrplan: Sie möchte erst einmal das Jugendamt arbeiten lassen. Die Bedarfe müssten ermittelt und ausgewertet werden, gegen Ende des Jahres soll dann ein Plan entwickelt werden, wie die Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt im Landkreis zukünftig aussehen soll. Ob dann per Ausschreibung eine Vereinsgründung initiiert werde oder alle Aufgaben beim Amt bleiben sollen, ist offen. Für Sophie und Jonas fehlt zukünftig etwas, denn beide wollen eine Beratung im Jugendamt nicht wahrnehmen.

Dieses Thema im Programm:
NDR Fernsehen | Hallo Niedersachsen | 29.05.2025 | 19:30 Uhr