
Nordrhein-Westfalen Nach Anschlag in Bielefeld: Gibt es einen Schutz vor Einzeltätern?
Der Verdächtige von Bielefeld hat sich offenbar unbemerkt radikalisiert. Wie können die Behörden solche potentiellen Täter finden?
Die Aussage von NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) ist so beängstigend wie klar: "Man muss ehrlich sagen: Wir können nicht ausschließen, dass sich einzelne Menschen sich einzeln radikalisieren und wir es nicht merken." Reul bezieht sich damit auf den Syrer Mahmoud M., der am vergangenen Sonntag mehrere Menschen in der Bielefelder Innenstadt angriff und schwer verletzte.
Mittlerweile hat die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe die Ermittlungen übernommen, da der Verdacht besteht, dass die Tat religiös motiviert war. Eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft sagte in der ARD, bei dem Beschuldigten sei ein Schriftstück gefunden worden, das auf eine religiöse Motivation schließen lasse.
Mitbewohner bemerkte Radikalisierung
Auch ein Mitbewohner von M., der in einer Flüchtlingsunterkunft in Harsewinkel wohnte, sagte dem WDR, dass sich M. in den vergangenen sechs Monaten über das Internet radikalisiert habe. Dort hätten Islamisten sogar versucht ihm beizubringen, wie man eine Bombe baut. Da der 35-jährige Syrer aber nie konkrete Anschlagspläne geäußert habe, sei er selbst nie zur Polizei gegangen, so der Mitbewohner.
Von solchen Fällen hört auch Hande Abay Gaspar häufiger. Sie ist Akademische Oberrätin in der Forschungsstelle Extremismusresilienz an der Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit (HöMS). "Gerade wenn es sich auch um Flüchtlinge handelt, haben sie oft Hemmnisse, Behördenvertreter anzusprechen", sagt Abay Gaspar. "Weil sie befürchten, es könnte auch für sie negative Konsequenzen haben."
Diese Hemmnisse können laut Abay Gaspar nur durch niederschwellige Aufklärung abgebaut werden. "Am besten, indem Mitarbeiter von Präventionsstellen und die Betreiber von Flüchtlingsunterkünften persönlich auf die Bewohner zugehen", sagt sie.
Radikalisierungs-Forscherin: "Einsame Wölfe" sind meist nicht ganz allein
Gleichzeitig betont die Politikwissenschaftlerin, dass das Bild des "Lone Wolf", also des Extremisten, der sich ganz allein radikalisiert, mittlerweile von der Forschung weitestgehend widerlegt wurde: "In den meisten Fällen findet bei dem Prozess eine Form von sozialer Kommunikation statt, wenn auch im virtuellen Raum."
Auch bei Mahmoud M. war das der Fall, der laut seinem Mitbewohner vor allem auf dem sozialen Netzwerk TikTok unterwegs war. Mit anderen Bewohnern der Flüchtlingsunterkunft habe er hingegen kaum Kontakt gehabt. Bereits im Bericht für das Jahr 2023 bezeichnete der Verfassungsschutz "jihadistisch motivierte Einzeltäter mit einfach zu beschaffenden Tatmitteln" als größte Gefahr. Neben der kurzen Planungsphase für die Taten und Waffen wie Messern, die leicht zu beschaffen seien, führt die Behörde noch einen weiteren Grund an: "oftmals kaum vorhandene relevante Netzwerk- und Kommunikationsstrukturen". Durch diese Kombination "stellt die Verhinderung solcher Taten eine besondere Herausforderung dar."
Ein weiterer Grund, der im Bielefelder Fall offenbar eine Rolle spielte: Die Behörden wurden nicht auf M. aufmerksam, weil er zuvor noch nie polizeilich aufgefallen war. "Das ist eine Seltenheit", sagt Abay Gaspar. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Polizei trotzdem auf genau diesen Täter stößt, sei dadurch extrem gering - auch, weil die Ermittlungsbehörden nur begrenzte Mittel hätten.
Und selbst wenn sie mehr Mittel hätten, warnt Innenminister Reul davor, diese auch einzusetzen. "Wir können nicht alle Menschen auf der Welt - und das will ich auch nicht - überwachen, welche Kontakte sie haben."
Unsere Quellen:
- Nachrichtenagentur dpa
- Interview mit dem Mitbewohner von Mahmoud M. aus der Flüchtlingsunterkunft in Harsewinkel
- Interview mit Hande Abay Gaspar, Akademische Öberrätin in der Forschungsstelle Extremismusresilienz an der Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit (HöMS)
- Interview mit NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU)
- Verfassungsschutzbericht 2023