
Thüringen Neues Denken statt alter Akten: Wie Thüringen Bürokratie modernisieren will
Zu viel Amt, zu wenig Tempo – ob Elterngeldantrag oder Unternehmensgründung: Wer in Thüringen etwas auf die Beine stellen will, trifft schnell auf dicke Aktenordner und lange Antragswege. Die Thüringer Landesregierung plant schon seit langem, Bürokratie abzubauen. Dafür wurde 2022 sogar ein eigenes Gremium eingeführt – der Thüringer Normenkontrollrat. Aber wie baut man Bürokratie ab und kann Bürokratie auch positiv sein?
Bürokratie – was ist das?
Staatliche Stellen, Behörden oder öffentliche Einrichtungen arbeiten nach festen Regeln – etwa mit Formularen, Vorschriften und klaren Zuständigkeiten. Bürokratie soll im Grunde dafür sorgen, dass Entscheidungen nachvollziehbar und gerecht getroffen werden. Wer in Thüringen beispielsweise bauen oder Flächen umnutzen will, muss mitunter aufwendige naturschutzrechtliche Prüfungen durchlaufen. Das heißt: viele Anträge, Formulare, komplizierte Sprache. Was eigentlich Ordnung schaffen soll, wird für viele Bürgerinnen und Bürger zur Hürde – besonders dann, wenn es schnell gehen müsste oder individuelle Lösungen gefragt wären.
Mission Elterngeld: Ein Bürokratie-Abenteuer
In Waltershausen im Landkreis Gotha setzt sich das Unternehmerpaar Stefanie und Marco Göring für junge Familien ein. Mit ihren Firmen unterstützen sie unter anderem Eltern bei der oft nervenaufreibenden Beantragung des Elterngeldes – und stoßen dabei immer wieder auf ein bürokratisches Dickicht, das eher frustriert als hilft.

Der Weg zum Elterngeld ist lang: Viele Eltern warten bis zu sechs Monate auf ihren Elterngeldbescheid.
Bis zu 30 Seiten Formulare müssen ausgefüllt werden – und das gleich nach der Geburt, erzählt Stefanie Göring. Und damit nicht genug: Die Unterlagen, die Eltern häufig direkt im Krankenhaus in die Hand gedrückt bekommen, sind oft veraltet. Änderungen durch die Behörden kommen nicht rechtzeitig an – ein Umstand, der sich wie ein roter Faden durchzieht. Wird ein veraltetes Formular eingereicht, folgt Wochen später die ernüchternde Rückmeldung: Falsches Formular, bitte erneut einreichen. Ein Prozess, der nicht nur Zeit, sondern auch Nerven kostet.
Bis zu sechs Monate Wartezeit auf den Elterngeldbescheid
Hinzu kommt: Einheitlichkeit? Fehlanzeige. Je nach beruflicher Situation – ob angestellt, selbstständig oder im Minijob – müssen unterschiedliche Formulare ausgefüllt werden. Und als wäre das nicht schon genug, setzen viele Landkreise noch eigene Sonderformulare obendrauf. Da entstehen richtige Brieffreundschaften mit den Behörden, sagt Göring mit einem bitteren Lächeln. Das Ergebnis dieser Formularflut: Viele Eltern warten bis zu sechs Monate auf ihren Elterngeldbescheid – und das Geld fließt noch lange nicht sofort. Gerade in der Anfangszeit, wenn nur ein Partner arbeitet, bringt das viele Familien finanziell an ihre Grenzen.

Stefanie Göring unterstützt in Waltershausen im Kreis Gotha junge Familien beim Beantragen des Elterngeldes.
Görings Appell an Politik und Verwaltung ist klar: Mehr Weitsicht, weniger Papierkrieg. Es braucht aktuelle, einheitliche und vor allem schlankere Formulare – am besten digital, so ihre Forderung. Eine digitale Lösung würde nicht nur Eltern viel Aufwand ersparen, sondern auch die überlasteten Behörden entlasten. Denn bei wachsendem Personalmangel ist moderne Technik längst keine Kür mehr – sondern ein Muss.
Gute Bürokratie, schlechte Bürokratie
Laut der Thüringer IHK-Chefin Cornelia Haase-Lerch sei der ursprüngliche Ansatz der Bürokratie eigentlich, etwas regeln zu wollen, um Prozesse verlässlicher zu gestalten. Man könne in den Verwaltungen und Behörden Abläufe sichern und Rechtssicherheit herstellen. Der Grundgedanke sei also kein negativer. Aber Bürokratie habe sich in Deutschland in solch einem Maße weiterentwickelt, dass der ursprüngliche Gedanke mittlerweile nicht mehr positiv gesehen werde und vielerorts Abläufe sogar blockiere.

Cornelia Haase-Lerch ist Hauptgeschäftsführerin der IHK Erfurt.
Verwaltungswirrwarr wird zum Wettbewerbsnachteil
Kommunale, Landes-, Bundes- und sogar EU-Ebene – die verschiedenen Verwaltungsebenen sind heute so stark miteinander verflochten, dass mittelständische Unternehmen oft kaum noch durchblicken, wer eigentlich für was zuständig ist. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Verwaltungen teilweise sogar gegeneinander arbeiten, statt gemeinsam – so beschreibt es Haase-Lerch.
Besonders kleinere und mittlere Unternehmen leiden unter dieser Bürokratielast. Während große Konzerne eigene Abteilungen haben, die sich ausschließlich um behördliche Berichtspflichten kümmern, bleibt diese Aufgabe im Mittelstand meist am Chef selbst hängen – inklusive aller Verantwortung. Das kostet vor allem Zeit – eine Belastung, die zunehmend zum echten Druckpunkt wird. Hinzu kommt: Der wachsende bürokratische Aufwand kann Innovationen ausbremsen und die Wettbewerbsfähigkeit kleiner Unternehmen erheblich einschränken.
Normenkontrollratschef: Keine positiven Effekte der Bürokratie
Auch für Stefan Zahradni, den Vorsitzenden des Thüringer Normenkontrollrats, beginnt Bürokratie dort, wo Regeln den Menschen mehr im Weg stehen, als dass sie ihnen helfen. Wenn Vorschriften den Alltag lähmen, statt ihn zu erleichtern, müssten sie weg. Doch ganz so einfach ist es nicht immer. Was für die einen wie überflüssige Bürokratie aussieht, kann für andere ein wichtiger Schutz sein. Zahradni nennt Beispiele: Arbeitsschutz, Verbraucherschutz oder Datenschutz. In solchen Fällen sorgen Regeln dafür, dass Menschen sicher leben und arbeiten können. Deshalb fordert er, genau hinzusehen: Bürokratie solle dort weichen, wo sie wirklich überflüssig ist, aber bestehen bleiben, wo sie schützt.

Steffen Zahradnik ist Chef des Thüringer Normenkontrollrates. Er ist Professor für Öffentliche Betriebswirtschaft und Rechtsetzung an der FH Nordhausen.
Warum dauert der Bürokratieabbau so lange?
Die Gründe, warum es so lange dauere, Bürokratie abzubauen, seien vielfältig. Laut Zahradni sei ein großer Faktor die langsame Digitalisierung der Verwaltung. Außerdem würden Gesetze oft ohne Blick auf ihre praktische Umsetzung beschlossen – das führe zu unnötigen Belastungen. Es sei wichtig, neue Regelungen vorab einem Praxis- und Digitalcheck zu unterziehen. Ein weiteres Problem sei die Risikovermeidung im öffentlichen Sektor, wo Vorschriften aus Angst vor Fehlern und Haftung entstünden. Diese Kultur führe dazu, dass viele Details bis ins Kleinste geregelt würden – was Vereinfachungen erschwere. Es brauche daher einen Paradigmenwechsel hin zu mehr Praxistauglichkeit und Fehlerakzeptanz, um Bürokratie wirksam abzubauen, so Zahradni.
Bürokratie verschlingt Wirtschaftsleistung
Laut verschiedenen Analysen der Bundesregierung und des Ifo-Insituts kostete die Bürokratie die Bundesrepublik im Jahr 2024 zwischen 67 und 146 Milliarden Euro. Bei rund zwei Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung entfallen auf Thüringen etwa 1,5 bis 2,9 Milliarden Euro jährlich. Der Großteil der Bürokratiekosten – etwa 80 bis 90 Prozent – wird durch EU- und Bundesgesetze verursacht. Ministerpräsident Mario Voigt (CDU) sieht die neue Bundesregierung in der Verantwortung, das Problem auf Bundesebene anzugehen. Auf EU-Ebene strebt er eine Reduzierung der Bürokratie um 20 Prozent an – doch konkrete Maßnahmen zur Umsetzung bleiben bislang unklar.
Wie will Thüringen das Problem lösen?
Ein zentraler Bestandteil der Bürokratie-Reform ist die flächendeckende Digitalisierung der Verwaltung. Viele Anträge und Formulare sollen online ausfüllbar und digital übermittelt werden. Dadurch wird der Aufwand für den Bürger minimiert und der Verwaltungsaufwand für Behörden reduziert. Ein Schritt in diese Richtung ist der 2025 eigeführte Online-Bürokratiemelder, der es ermöglicht, überflüssige Bürokratie direkt zu melden. Die eingehenden Hinweise werden vom Thüringer Normenkontrollrat geprüft. Das betrifft zum Beispiel übermäßig lange Formulare, Bearbeitungszeiten in Behörden oder unklare Zuständigkeiten. Bisher sind rund 250 Vorschläge eingegangen.

Durch die flächendeckende Digitalisierung der Verwaltung sollen viele Anträge und Formulare online ausfüllbar und digital übermittelt werden.
Eine weitere Maßnahme ist der Ausbau des Thüringer Serviceportals. Sie ist zentrale Anlaufstelle für die wichtigsten Verwaltungsprozesse. Bürger und Unternehmen sollen nicht mehr von Amt zu Amt geschickt werden, sondern können ihre Anliegen an einer einzigen Stelle klären. Ein solches zentrales Serviceportal könnte dann beispielsweise Anträge für Elterngeld, Baumaßnahmen und Gewerbeanmeldungen bündeln.
IHK-Chefin Haase-Lerch betont, dass es nicht ausreicht, alles der Digitalisierung zuzuschreiben. Ein ineffizienter Prozess wird durch digitale Umsetzung nicht automatisch besser. Vielmehr müsse jeder bürokratische Schritt sorgfältig überprüft werden. Das wahre Problem liege nicht im Erkennen der Bürokratie, sondern in der Bereitschaft, sie tatsächlich anzugehen und zu reformieren.
MDR (ltt)