Robert Habeck (Archivbild: 26.11.2024)
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Kampf um PFAS Wie Habeck der Chemie-Lobby auf den Leim geht

Stand: 14.01.2025 06:00 Uhr

PFAS-Chemikalien sollen eingeschränkt werden. Doch Hunderte Firmen kämpfen hart dafür, die Chemikalien weiter zu benutzen. Neue Recherchen zeigen, dass wichtige Politiker falsche Lobby-Behauptungen übernehmen.

Von Lea Busch, Daniel Drepper, Johannes Edelhoff, Catharina Felke, Jana Heck und Sarah Pilz, NDR/WDR

Der beeindruckend hohe, mit Glas überdachte Innenhof liegt nur wenige hundert Meter vom Brandenburger Tor entfernt. Hier, in der Bayerischen Landesvertretung in Berlin, treffen sich Ende Januar 2024 einige der wichtigsten Firmen Deutschlands mit Regierungsvertretern, unter anderem aus dem Bundeswirtschaftsministerium. Zur Begrüßung gibt es Butterbrezn, doch danach wird es schnell inhaltlich - und Robert Habecks Wirtschaftsministerium hat den anwesenden Unternehmen gute Nachrichten mitgebracht. Das geht aus einem internen Dokument des Ministeriums hervor, das NDR, WDR und die Süddeutsche Zeitung einsehen konnten.

Rund drei Stunden lang geht es in der Hauptstadt um die umstrittenen per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen (PFAS), die wichtig sind für viele verschiedene Industrien: für große Chemiefirmen, aber auch für Hersteller von Pfannen, Outdoor-Kleidung oder Medizingeräten. Die Antihaft-Eigenschaft der Substanzen sorgt dafür, dass das Ei in der Pfanne nicht anbrennt, die Regenjacke wasserabweisend ist und ein Medizingerät im Körper gleitet und nicht ruckelt.

Doch Anfang 2023 hat Deutschland gemeinsam mit vier anderen Ländern vorgeschlagen, die ganze Gruppe der PFAS deutlich zu beschränken. Denn wenn die Chemikalien einmal in der Umwelt sind, bleiben sie dort über viele Jahrzehnte. Einigen PFAS wurde nachgewiesen, dass sie Krebs verursachen können sowie Leberschäden und Hormonstörungen verursachen und das Immunsystem schädigen können.

Dieses Vorhaben hat den wahrscheinlich größten Lobby-Ansturm ausgelöst, den es in Europa jemals gegeben hat. Mehrere tausend Schreiben gingen an die zuständige Chemikalienagentur ECHA, insgesamt fast 70.000 Seiten. Doch viele der von der Industrie vorgebrachten Argumente stützen sich auf falsche Angaben oder irreführende Studien.

Recherchiert hat das in den vergangenen Monaten das internationale "Forever Lobbying Projekt", an dem auch NDR, WDR, Süddeutsche Zeitung und die deutsche Ausgabe der MIT Technology Review beteiligt waren. Das Team hat dafür tausende Dokumente geprüft, rund 200 Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz gestellt und mit zahlreichen Insidern und Experten gesprochen.

Falsche Angaben, übertriebene Zahlen, fehlende Belege

Besonders umkämpft ist die wohl wichtigste Gruppe der PFAS, die sogenannten Fluorpolymere. Das sind Kunststoffe, die Antihaft-Eigenschaften haben, wenig Reibung erzeugen und daher von zahlreichen Firmen genutzt werden. Als zentrales Argument gegen eine strikte Regulierung durch die Politik bezeichnen die Industrie-Vertreter diese Stoffe in ihren Lobby-Papieren schlicht als sogenannte "Polymers of Low Concern", also wenig besorgniserregende Stoffe, das heißt nicht gesundheitsgefährdend.

Das habe sogar die Internationale Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit OECD bestätigt. Das Problem: Das stimmt nicht. Bei der OECD hatten sich von 1993 bis 2009 lediglich verschiedene Expertengruppen mit den Stoffen beschäftigt. Die OECD erklärt auf Anfrage, sie habe "keine Bewertung von Fluorpolymeren durchgeführt". Auf der Website der Organisation heißt es zudem: "Es besteht keine Einigkeit darüber, dass Fluorpolymere wenig besorgniserregend sind".

Offenbar um ihre Erzählung zu unterfüttern, verweisen Industrievertreter fast 1.000 Mal auf zwei wissenschaftliche Publikationen. Diese legen dar, dass Fluorpolymere angeblich zu groß seien, um Schäden in menschlichen Zellen zu verursachen. Die Autoren der wissenschaftlichen Publikationen waren zudem entweder bei der Industrie angestellt oder von ihr bezahlte Berater, also nicht unabhängig. Darin verweisen sie vor allem wieder auf eine angebliche Unbedenklichkeit der Substanzen, indem sie sich auf einen nicht finalen Stand bei der OECD berufen - ein Protokoll von einer Expertengruppe der OECD von 1993.

Einfluss auf Blutspenden

Tatsächlich sind Fluorpolymere in der Phase der Nutzung in der Regel ungefährlich. Die Debatte darüber ist eine Nebelkerze. Das Problem ist die Herstellung und Entsorgung, bei der es vor allem durch das Abwasser regelmäßig zu Verunreinigungen der Umwelt gekommen ist. Rund um Fabriken sind ganze Landstriche verseucht: Im Landkreis Altötting in Bayern beispielsweise durften Blutspenden von Anwohnern nicht mehr für Blutkonserven genutzt werden.

In Belgien etwa warnt die Provinzregierung die Anwohner in einem Radius von eineinhalb Kilometer um die Fabrik, keine Eier von eigenen Hühnern zu essen, Kinder sollten nicht auf unbedecktem Boden spielen. Weil Herstellung und Entsorgung für die Umwelt gefährlich sind, geben unabhängige Forscher den Fluorpolymeren nicht den Stempel "wenig besorgniserregend".

Ein weiteres zentrales Argument der Industrie: Fluorpolymere können angeblich in geschlossenen Systemen hergestellt werden, also ohne dass Emissionen in die Umwelt gelangen. Der wichtigste europäische Lobbyverband für Fluorpolymere stellt dazu in seiner zentralen Stellungnahme allerdings nur Behauptungen auf und präsentiert keine Belege. Experten bestreiten, dass dies möglich ist. "Das kann man sagen, aber bisher laufen diese Fabriken nicht so", sagt etwa Martin Scheringer von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Er forscht seit fast 20 Jahren zu PFAS. Es sei bisher noch nie ein Beweis erbracht worden, dass eine perfekt saubere Abwicklung überhaupt möglich sei.

Prüfung aller PFAS kaum möglich

Industrievertreter plädieren häufig dafür, PFAS nach einem "risikobasierten" Ansatz zu regulieren. Dabei wird jede Substanz einzeln geprüft und nur dann verboten, wenn bewiesen ist, dass sie giftig ist, das Erbgut beeinträchtigt oder anderweitig schädliche Wirkungen zeigt. Diese Vorgehensweise hat jedoch bislang dazu geführt, dass oftmals die regulierten PFAS durch andere, sehr ähnlich noch unregulierte der etwa 10.000 PFAS ersetzt wurden. 

Jede einzelne dieser Chemikalien zu analysieren, um über ein Verbot zu entscheiden, wäre jedoch extrem zeitaufwändig. "Das würde Jahrhunderte dauern. Es ist absolut nicht praktikabel", erklärt Martin Scheringer von der ETH Zürich.

Habeck-Ministerium mit Industrie-Argumenten

Die Industrie scheint mit ihren Argumenten trotzdem Erfolg zu haben. Eine umfangreiche Beschränkung von PFAS erscheint inzwischen fraglich. Bundeswirtschaftsminister und Grünen-Kanzlerkandidat Habeck erklärt im August 2023, man dürfe "die Entwicklung von Technologien nicht durch Überregulierung verhindern, zumal der Einsatz in geschlossenen Systemen in der Produktion erfolgt."

Wenige Wochen später lädt Bundeskanzler Olaf Scholz zu einem Chemiegipfel ins Kanzleramt. Im Anschluss schreibt das Kanzleramt mit Bezug auf PFAS, dass es "pauschale, undifferenzierte Verbote ganzer Stoffklassen" ablehne. Die Signale werden auch im Ausland bemerkt. In Frankreich zeigen sich Beamte während eines internen Treffens überrascht: "Die deutsche Regierung ließ verlauten, dass eine Beschränkung, die alle PFAS umfasst, nicht denkbar sei, was insofern paradox ist, als Deutschland das Dossier vorgebracht hat."

Im Januar 2024, bei dem Treffen in der Bayerischen Landesvertretung in Berlin, hat das grüne Wirtschaftsministerium der Industrie gute Nachrichten mitgebracht. In einer internen Gesprächsvorlage, die NDR, WDR und SZ vorliegt, notiert das Ministerium Zugeständnisse, die mit Bundesminister Habeck abgesprochen wurden. Zentraler Punkt: Die Fluorpolymere will das Wirtschaftsministerium von der Beschränkung ausnehmen. Auch das Ministerium verweist auf das falsche Argument, nämlich dass sie "als polymers of low concern betrachtet werden", also als nicht besorgniserregende Stoffe.

Auf Nachfrage, woher diese Information stammt, antwortet die Pressestelle: von der OECD. Das ist jene Organisation, die klargestellt hat, dass sie dies nie behauptet habe. Auf erneute Nachfrage, warum Habecks Ministerium dieses falsche Industrie-Argument nutzt, schreibt die Pressestelle ausweichend, sie habe zwar auf das OECD-Argument in ihrer Antwort verwiesen, sich dieses "aber nicht zu eigen gemacht". Unklar bleibt, warum das Ministerium dann behauptet, die Stoffe seien nicht besorgniserregend.

Wirtschaftsminister übernehmen Zahlen der Industrie

Wie erfolgreich sich die falschen oder irreführenden Argumente von Industrievertretern durch die deutsche Politik ziehen, zeigt auch ein Beispiel von Ende November 2023. Da treffen sich die Wirtschaftsminister aller 16 Bundesländer und sprechen über die Beschränkung von PFAS, auch Habeck ist eingeladen. Nach dem Treffen veröffentlichen sie ihren Beschluss, der gleich mehrere falsche Behauptungen enthält.

Darin ist nicht nur die Rede von unproblematischen Fluorpolymeren, auch der falsche Hinweis auf die OECD wird angeführt. Und es taucht eine Summe auf, die der Chemieproduktion angeblich bis 2040 jedes Jahr verloren gehen würde, wenn Chemikalien stärker beschränkt würden. Ein beinahe gleichlautender Satz findet sich in einer Studie, die der europäische Interessenverband der chemischen Industrie beauftragt hat.

Die Entscheidung über die PFAS-Beschränkung wird sich noch länger hinziehen. In Brüssel befassen sich derzeit verschiedene Ausschüsse mit allen möglichen Produkten und Ausnahmen für die Beschränkung. Im März etwa soll es zum ersten Mal um fluorierte Gase, um die Transport- und die Energieindustrie gehen, danach um Schmiermittel, Medizingeräte und Halbleiter. Die Lobbyschlacht - sie ist noch längst nicht zu Ende.

Wer gehört zum "Forever Lobbying Project"?
Die internationale Recherche "Forever Lobbying Project" (bisher "Forever Pollution Project") wurde von der Zeitung Le Monde koordiniert und umfasst mehr als zwei Dutzend Medienpartner aus 16 Ländern:

RTBF (Belgien); Denik Referendum (Tschechische Republik); Investigative Reporting Denmark (Dänemark); YLE (Finnland); Le Monde und France Télévisions (Frankreich); MIT Technology Review Germany und NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung, (Deutschland); Reporters United (Griechenland); Radar Magazine, Facta.eu und La Via Libera (Italien); Investico und Financieele Dagblad (Niederlande); Klassekampen (Norwegen); Oštro (Slowenien); Datadista (Spanien); Sveriges Radio und Dagens ETC (Schweden); SRF (Schweiz); The Black Sea (Türkei); Watershed Investigations und The Guardian (Vereinigtes Königreich).

Publikationspartner ist Arena for Journalism in Europe, im Austausch mit der NGO Corporate Europe Observatory. Die Projektpartner erhielten finanzielle Unterstützung vom Pulitzer Center, der Broad Reach Foundation, Journalismfund Europe und IJ4EU.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 14. Januar 2025 um 06:20 Uhr.