
Geheimer Masken-Bericht "Team Ich" statt "Team Staat"
In bislang unbekannten Teilen des Sonderberichts zu Masken-Bestellungen werden schwere Versäumnisse des Gesundheitsministeriums unter Jens Spahn aufgezählt. Die Rede ist von einem "Drama in Milliarden-Höhe", so Recherchen von NDR, WDR und SZ.
Seit Januar liegt der Bericht der Sonderermittlerin Margaretha Sudhof im Bundesgesundheitsministerium vor. Aber erst dauerte es mehrere Wochen, um die Vorwürfe zu prüfen, dann hielt Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) den Bericht unter Verschluss. "Ich habe ihn wegen des begonnenen Wahlkampfs nicht mehr veröffentlicht", sagt Lauterbach auf Anfrage von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung (SZ).
"Jetzt, wo das selbst aus Unionskreisen als Versäumnis gesehen wird, gehe ich davon aus, dass die Gesundheitsministerin dieses Versäumnis nachholen und den Bericht veröffentlichen wird", so Lauterbach.
Seit Anfang Mai ist Jens Spahns Parteifreundin Nina Warken (CDU) Gesundheitsministerin, doch sie will den Bericht offenbar nicht herausgeben. Angeblich sprechen Datenschutzgründe und Prozessrisiken dagegen, wie sie am Donnerstag mitteilte.
NDR, WDR und SZ liegen inzwischen weitere Kapitel des Berichts exklusiv vor, darunter auch das zusammenfassende Kapitel. Darin wird in ungewohnt scharfer Form Kritik am Vorgehen des Bundesgesundheitsministeriums unter Ex-Minister Spahn geübt. Er ist seit Mai dieses Jahres Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag.
Gegen den Rat der Fachabteilungen
"Fehlendes ökonomisches Verständnis" und "politischer Ehrgeiz" hätten dazu geführt, dass in der Pandemie nicht als "Team Staat", sondern als "Team Ich" gehandelt wurde. "Das Drama in Milliarden-Höhe" habe damit begonnen, dass sich Spahn "nachweislich gegen den Rat seiner Fachabteilungen" in den Kopf gesetzt habe, "die Beschaffung allein meistern zu wollen".
Die Folgen sind bekannt: Er kaufte Masken im Wert von knapp sechs Milliarden Euro, von denen rund zwei Drittel am Ende nicht gebraucht wurden.
Mit den Vorwürfen aus dem Bericht konfrontiert, sagt Spahn gegenüber NDR, WDR und SZ, "in der damaligen Notsituation bei der Beschaffung unkonventionelle Wege" gegangen zu sein, weil die etablierten Beschaffungswege angeblich "nicht funktionierten". Der Sonderermittlerin Margaretha Sudhof wirft Spahn vor, "nicht nur Sachfragen behandelt, sondern umfangreich persönliche Wertungen vorgenommen" zu haben.
Die CDU/CSU-Fraktion springt Spahn dabei zur Seite und attackiert nun ebenfalls die Sonderermittlerin. "Der Bericht von Frau Sudhof ist parteipolitisch motiviert", so die Unionsfraktion in einer Stellungnahme vergangene Woche, er sei "voller persönlicher Wertungen".
Auf Anfrage von NDR, WDR und SZ lehnte Sudhof es ab, sich zu äußern. Gegen eine parteipolitische Einseitigkeit spricht allerdings, dass sie in ihrem Masken-Bericht auch das damalige Finanzministerium unter Olaf Scholz (SPD) kritisiert, wie die FAZ kürzlich berichtete.
Drohende Zahlungen von 2,3 Milliarden Euro
Sudhof wurde im Sommer 2024 von Lauterbach zur Aufarbeitung der Maskenbestellungen eingesetzt, nachdem bekannt geworden war, dass der Bundesregierung in den immer noch andauernden Prozessen mit Masken-Lieferanten Zahlungen von 2,3 Milliarden Euro drohen.
Zuvor war Lauterbach die Aufarbeitung der Maskengeschäfte drei Jahre lang nicht angegangen, obwohl er unmittelbar nach seinem Amtsantritt 2021 angekündigt hatte, etwa die Bestellung bei der Schweizer Firma Emix aufzuarbeiten, bei der Spahn persönlich erlaubte, dass auch noch Ende April 2020, als keine Maskennotlage mehr herrschte, 100 Millionen FFP2-Masken zum Preis von 5,40 Euro pro Stück bestellt wurden.
Sudhof selbst ist Juristin und SPD-Mitglied und war zuvor Staatssekretärin im Verteidigungsministerium. Im März 2023 wurde sie mit 63 Jahren in den einstweiligen Ruhestand versetzt.
Keine Mehrheit für Untersuchungsausschuss
Nicht nur die Haushaltspolitikerin der Grünen, Paula Piechotta, kritisiert, dass Gesundheitsministerin Warken den Bericht weiter geheim hält: "Dass der Bundestag bis heute keinen vollständigen Einblick in den Bericht erhält, missachtet das demokratische Prinzip der Gewaltenteilung: Nur ein Parlament, das die Regierung wirklich kontrollieren kann - und dafür alle notwendigen Informationen erhält -, kann seiner Rolle gerecht werden."
Die Grünen wären zwar bereit, einen Untersuchungsausschuss in der Sache zu beantragen, doch dafür braucht es 25 Prozent der Abgeordneten. Union und SPD sind dazu nicht bereit und mit der AfD wollen die Grünen nicht zusammenarbeiten.
Bereits der Bundesrechnungshof hatte in seinen Berichten zur Maskenbestellung unter Spahn die chaotische Aktenführung im Ministerium angeprangert, die zum Teil aus Lose-Blatt-Sammlungen bestehe. Der Sudhof-Bericht verstärkt dies noch einmal, in dem er feststellt, dass "per SMS und Messenger (im Wesentlichen wohl WhatsApp) kommuniziert wurde". Dabei wurde im Ministerium "die Messenger- und SMS-Kommunikation nicht archiviert".
Weiter heißt es in dem Bericht, dass Spahn bei den Maskenbestellungen "immer wieder persönlich intervenierte" und dies häufig von seinem Bundestags-E-Mail-Account machte statt von seinem Ministeriums-Account. Auch NDR, WDR und SZ liegen entsprechende Nachrichten von Spahn vor. In der Kommunikation mit Maskenlieferanten aus Hamburg bat er einmal ausdrücklich darum, ihm Screenshots "per WhatsApp" zu schicken.
Warnungen von Ämtern
Die größten juristischen Auseinandersetzungen führt der Bund bis heute mit Lieferanten aus dem so genannten Open-House-Verfahren. Dabei hatte Spahn jedem, der bis 30. April 2020 FFP2-Masken liefern wollte, einen festen Preis von 4,50 Euro pro Stück geboten. Der Bund wurde in der Folge aber mit Masken förmlich überschwemmt, es gingen zehnmal mehr Lieferzusagen als kalkuliert. Das von Spahn gegen Einwände aus dem Innenministerium beauftragte Logistikunternehmen Fiege konnte die Menge nicht mehr bewältigen.
Später stellte sich Spahns Ministerium auf den Standpunkt, wer bis zum 30. April 2020 nicht geliefert habe, habe auch keinen Anspruch mehr auf Bezahlung. Im Sudhof-Bericht steht nun, dass das Bundesamt für Ausrüstung, eine Einrichtung der Bundeswehr, bereits "initial vor dem Konstrukt des Open-House-Verfahrens gewarnt" hatte, wegen der "fehlenden Mengen- und Qualitätssteuerung der zu erwartenden Anlieferungen".
Auch die Warnung des zum Innenministerium gehörenden Beschaffungsamtes sei ignoriert worden ("nicht als Red Flags betrachtet", wie es im Bericht heißt), "die schlichten oder widersprüchlichen Vertragswerke beschäftigen den Bund bis heute".
Externe Unternehmen beauftragt
Auch die Fachebene seines eigenen Ministeriums warnte laut Bericht ihren Minister, die Beschaffungen ins eigene Haus zu holen, "dies jedoch vergeblich". Angesichts "eines außer Kontrolle geratenen Beschaffungs- und Logistikprozesses" habe Spahns Ministerium aber schon bald "den Anspruch auf Eigenbefähigung" aufgegeben und externe Unternehmen wie EY und Deloitte mit der Abwicklung beauftragt.
Diese koordinierten auch "die sich aus den Beschaffungen des BMG (Bundesministerium für Gesundheit) ergebenden Streitigkeiten, verhandelten Vergleiche oder entschieden über die Rücktritte von Verträgen".
Rechtsanwalt Axel Mütze von der Berliner Kanzlei Partsch & Partner, die mehr als ein Dutzend Lieferanten vor Gericht gegen das Ministerium vertritt, hält es für erstaunlich, dass die Kanzleien offenbar so weitgehende Entscheidungsbefugnisse hatten.
Seit Sommer vergangenen Jahres haben mehrere Senate des Oberlandesgerichts Köln die Ansicht des Bundes verworfen, dass er einfach so von den Verträgen zurücktreten konnte, nachdem die Lieferfrist versäumt wurde. Der Bund hätte zumindest eine kurze Nachfrist setzen müssen, was er aber regelmäßig versäumt habe.
Deshalb konstatiert der Sudhof-Bericht: "Weitere erhebliche Risiken stehen allerdings heute noch aus und werden sich absehbar künftig noch im Bundeshaushalt niederschlagen." Mit anderen Worten: Die Fehler des Spahn-Ministeriums in den Open-House-Verfahren könnten den Steuerzahler noch Milliarden kosten.
Mit Überforderung allein nicht zu erklären
Grünen-Haushaltspolitikerin Piechotta sagt: "Die Maskenbeschaffung unter Jens Spahn wirft ernsthafte Fragen auf, die mit Überforderung allein nicht erklärt werden können. Überfordert waren wir alle. Aber wir haben trotzdem nicht 20 mal mehr Geld ausgegeben, als wir auf dem Konto haben, wir haben nicht hunderte von Gerichtsverfahren ausgelöst, wir haben nicht Milliardenaufträge an Firmen in unserer Heimat vergeben, obwohl uns alle davon abgeraten haben."
Piechotta verweist auf noch offene Fragen dazu, warum einzelne Anbieter, die im Open-House-Verfahren nicht zum Zug kamen, trotzdem Direktverträge angeboten bekamen, andere aber nicht. "Was erklärt den Unterschied in der Behandlung von Maskenhändlern? Nähe zum Minister?"
Auch Sonderermittlerin Sudhof erkennt an, dass die Pandemie "eine der größten Herausforderungen Deutschlands seit dem zweiten Weltkrieg war". Dennoch könne man das, was in Spahns Amtszeit schiefgelaufen sei, nicht einfach als "unglückliche Verkettung" abtun. Schließlich seien die Risiken und hohen Schadens-Eintrittswahrscheinlichkeiten durchaus bekannt gewesen.
Spahn erklärt auf Anfrage, "die Beschaffung diente ausschließlich dem Ziel, nicht erneut in Mangellagen zu geraten". Im Übrigen habe er seit dreieinhalb Jahren keinen Zugang mehr zu Akten. Man solle sich bei Fragen ans Gesundheitsministerium wenden.
Ein Bericht auf Grundlage des Sudhof-Berichts müsse erst "noch weiter vorbereitet werden", heißt es aus dem Ministerium. Deshalb, so lässt Gesundheitsministerin Warken mitteilen, könne man sich "im Detail zu den von Ihnen aufgeworfenen Fragen nicht äußern".