Ärztin mit Stethoskop

Medizinische Versorgungszentren Profit vor Patientenwohl?

Stand: 27.01.2025 08:53 Uhr

Private Investoren entdecken das Geschäft mit medizinischen Versorgungszentren. Gleichzeitig ermitteln Staatsanwaltschaften gegen eine wachsende Zahl der Einrichtungen. Es geht um Abrechnungsbetrug und unnötige Operationen.

Von Barbara Hirl und Moritz Hartnagel, SWR

"Ich kann nur jedem raten, keine Scham zu haben, sondern das konsequent abzulehnen", sagt Johanna Klengel mit Nachdruck. Bei der 75 Jahre alten Seniorin aus der Nähe von Hamburg fing alles mit Schwierigkeiten beim Lesen an. Die Diagnose beim Augenarzt: Grauer Star. Daraufhin sucht Klengel im Internet nach einer Klinik, die ihren Grauen Star behandeln kann. Schnell wird sie fündig, es ist eine Klinik ganz in ihrer Nähe.

Bereits beim ersten Termin sei ihr eine Operation mit Laser empfohlen worden, berichtet die Rentnerin. Als gesetzlich Versicherte müsse sie diese Leistung allerdings privat bezahlen. Während des Gespräches habe sie mehrfach erwähnt, dass sie Kassenpatientin sei und nicht mehrere tausend Euro bezahlen möchte, erzählt sie.

Die Klinik habe diese Einwände ignoriert, stattdessen sogar zu ihr gesagt, sie gehöre doch zu der Generation, die sich das "sicherlich leisten" könne. Darüber hinaus sei die angebotene Laserbehandlung wesentlich schonender als die Kassenleistung, die manuell gemacht werde.

Operation für mehr als 3.600 Euro

Klengel erzählt, sie habe gleich einen Behandlungsvertrag vorgelegt bekommen: Mehr als 3.600 Euro soll sie für asphärische Linsen und die Operation an beiden Augen bezahlen. Überzeugt durch das Beratungsgespräch, habe sie unterschrieben. Doch zu Hause seien ihr Zweifel gekommen. Sie recherchiert, erkundigt sich bei Ihrer Krankenkasse. Dort habe man ihr versichert, die Operation, die von der Krankenkasse bezahlt werde, sei genauso gut.

Klengel fühlt sich von der Augenklinik nicht gut beraten. Zu diesem Zeitpunkt weiß sie noch nicht: Die Augenklinik ist seit einigen Jahren im Besitz einer Private-Equity-Gesellschaft. Sie wird als sogenanntes Medizinisches Versorgungszentrum, kurz MVZ, geführt. Bei einem MVZ werden verschiedene Kliniken und Praxen zu einer größeren Einheit zusammengeschlossen - ähnlich wie Einkaufsläden in einer Shopping Mall.

Wirtschaftliche Interessen im Vordergrund?

Bei der Verbraucherzentrale Hamburg kennt die Rechtsexpertin Anke Puzicha zahlreiche Fälle wie den von Johanna Klengel. Die Studienlage zeige keine signifikanten Vorteile der Laser-OP gegenüber der konventionellen Operationsmethode, so die Juristin. Vielmehr dränge sich der Verdacht auf, die wirtschaftlichen Interessen der Augenklinik stünden im Vordergrund. Denn, so Puzicha, für die konventionelle Methode könne das MVZ etwa 1.000 Euro abrechnen, während bei der Lasermethode in etwa das Doppelte möglich sei.

Auf Anfrage lässt die Klinik durch ihren Anwalt mitteilen, dass sie keine Stellungnahme zu Veröffentlichungszwecken abgeben werde.

Fest steht: Immer mehr private Investoren drängen in den Gesundheitsmarkt seit einer Gesetzesänderung der damaligen SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt im Jahr 2004. Seitdem müssen Praxisinhaber nicht mehr zwingend Mediziner sein. Auch Investoren dürfen nun Praxen übernehmen.

Die Rechtsexpertin der Verbraucherzentrale beobachtet besonders in den profitablen Medizinbereichen wie etwa der Augenheilkunde, der Zahnmedizin oder der Radiologie ein vermehrtes Aufkaufen von Praxen durch Investorengruppen. Die Praxen würden intern umstrukturiert, um möglichst viel Rendite zu erzielen, so Puzicha.

Ermittlungen gegen mehrere MVZ

Inzwischen wird gegen immer mehr MVZ ermittelt. Etwa bei den Staatsanwaltschaften in Meiningen, Hamburg, Leipzig oder Stuttgart. Dort hat die Staatsanwaltschaft ein großes Augenzentrum aus Süddeutschland im Visier. Der Verdacht: Abrechnungsbetrug in Tateinheit mit Körperverletzung. Körperverletzung liegt zum Beispiel vor, wenn eine Operation durchgeführt wird, die medizinisch gar nicht notwendig wäre.

Ein Patient dieses Augenzentrums, der anonym bleiben möchte, berichtet von seiner Erfahrung. Ihm sei dort eine Grauer-Star-Operation mit Laser für mehrere tausend Euro empfohlen worden. Er hätte um Bedenkzeit gebeten. Kurz darauf erhält er ein Schreiben: Die Kopie eines Briefes des Augenzentrums an das zuständige Landratsamt. Darin heißt es, bei ihm sei eine Trübung der Linsen auf beiden Seiten festgestellt worden. Und weiter: Da er eine Operation abgelehnt habe, spreche ihm das Augenzentrum ein offizielles Fahrverbot aus.

Darf ein Arzt ein Fahrverbot erteilen? Christoph Foth, Leiter des Ordnungsamtes beim zuständigen Landratsamt Zollernalbkreis, findet das Schreiben des Augenzentrums an seine Behörde irritierend. Ärzte dürften kein Fahrverbot mit rechtlicher Wirkung verhängen. Sie können lediglich eine Empfehlung aussprechen.

Operationen wirklich notwendig?

Inzwischen hat der Patient seine Augenwerte an einer Klinik überprüfen lassen. Plusminus legt Augenarzt Armin Wolf, ärztlicher Direktor der Klinik für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Ulm, die Werte vor. Auch ihn überrascht das vermeintliche Fahrverbot. Armin Wolf kann sich nicht erklären, warum das MVZ den Patienten für fahruntauglich hält. Denn für Fahrtauglichkeit gebe es klare Sehschärfenwerte. Die ermittelten Sehschärfenwerte seien Werte, mit denen der Patient mit Sehhilfe fahren dürfe.

Wie kam das Augenzentrum dazu, dem Patienten ein Fahrverbot auszusprechen? Will man so Patienten zur Operation drängen? Auf Anfrage weist das das Augenzentrum den Vorwurf zurück. Es sei nur um den Schutz der anderen Verkehrsteilnehmer gegangen.

Kommunale Kliniken unter Druck

Das zunehmende Renditestreben in der Kliniklandschaft setzt auch kommunale Kliniken unter Druck. In der Kreisklinik Groß-Gerau beobachtet Klinikleiterin Erika Raab, dass hier zunehmend die Patienten landen, die woanders keine Kassenbehandlung bekommen würden. Schon lange seien Patienten zum Wirtschaftsobjekt geworden, so die Geschäftsführerin.

Kommunale Kliniken wie ihre hätten mittlerweile eine Auffangfunktion für Patienten, die nicht profitabel seien. Wer als Patient zu viel Arbeit verursache und nicht wirtschaftlich sei, erhalte bei einigen MVZ keine Termine mehr. Prinzipiell hält Erika Raab es für sinnvoll, Kliniken und Praxen zu größeren Einheiten zusammenzuschließen. Auch in Groß-Gerau hat sie deshalb ein medizinisches Versorgungszentrum gegründet.

Wird Gesundheitssystem von Investoren übernommen?

Doch sie fürchtet, dass das Gesundheitssystem immer mehr von Investoren übernommen wird. Und durch die Krankenhausreform der ehemaligen Ampelregierung könnte sich die Situation sogar noch verschärfen. Denn im Rahmen der Krankenhausreform sei eine neue Art von Kliniken eingeführt worden, die eine Sandwichposition zwischen ambulant und stationär inne hätten.

Viele Investoren würden bereits in den Startlöchern lauern, um in die lukrativen medizinischen Bereiche einzusteigen. Die Krankenhausreform öffne nun die Büchse der Pandora, so die Klinikleiterin. Für Patienten könnte die Folge sein, dass sie zukünftig bei wenig lukrativen Behandlungen noch länger auf einen Termin warten müssten oder in bestimmten Praxen gar keinen mehr erhalten würden.

Zurück zu Johanna Klengel: Sie ist inzwischen vom Behandlungsvertrag mit dem MVZ zurückgetreten und hat sich stattdessen an einer Universitätsklinik mit der Methode ohne Laser operieren lassen - ohne einen Cent dazuzahlen zu müssen. Mit dem Ergebnis der Operation ist die Seniorin sehr zufrieden. Nur, so merkt sie an, jetzt müsse sie mehr putzen, da sie plötzlich alles wieder so gut sehen könne. Ärztlichen Rat wird siel in Zukunft kritisch hinterfragen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Plusminus am 08. Januar 2025 um 21:45 Uhr.