Ein männlicher Orang-Utan hangelt sich durch das Borneo Orang-Utan-Auffangzentrum in der Nähe von Balikpapan (Archivfoto).

Evolutionsforschung Komplettes Genom von Menschenaffen entschlüsselt

Stand: 19.04.2025 11:21 Uhr

Der technische Fortschritt macht es möglich: Erstmals konnte die komplette Erbinformation von sechs Menschenaffenarten entschlüsselt werden. Fachleute feiern das als wichtigen Schritt zur Erforschung der menschlichen Evolution.

Von Veronika Simon, SWR

"Ein Teil von dem, was uns zu Menschen macht, steht in unserem Bauplan, in unserem Erbgut, in der DNA", sagt Tobias Lenz, Professor Biologie an der Universität Hamburg. In einem großen, internationalen Forschungsprojekt wurde nun eine Grundlage gelegt, um das, "was uns zu Menschen macht" noch besser erforschen zu können: Die vollständigen Genome von sechs Menschenaffenarten wurden in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht - von je einem Schimpansen, Bonobo, Gorilla, Siamang und zwei Orang-Utan-Arten. "Diese neuen Genomdaten lassen uns noch mal besser erkennen, was uns eigentlich von diesen Menschenaffen unterscheidet“, so Lenz.

Das erste Genom des Menschen? Unvollständig!

Möglich waren diese Analysen durch neue Technologien. "Man könnte jetzt sagen: Das erste Genom de Menschen wurde im Jahr 2000 veröffentlicht - das ist schon ziemlich lange her", sagt Iker Rivas-González, Forscher am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. "Aber eigentlich stimmt das nicht so ganz", denn wirklich alle Teile des menschlichen Genoms kannte man damals noch nicht.

"Die volle Sequenz, also wirklich alles von Anfang bis Ende, wurde erst im Jahr 2022 veröffentlicht." Denn um diese vollständige Erbinformation zu entschlüsseln, brauchte man sehr fortgeschrittene technische Methoden, die erst seit wenigen Jahren zur Verfügung stehen, so Rivas-González.

Das heißt: Es gibt Passagen des Erbguts von Menschen und Menschenaffen, die wir sehr gut und schon sehr lange kennen, aber andere Teile sind schwieriger abzulesen. Da sind zum Beispiel Regionen mit sehr vielen Wiederholungen - immer und immer wieder die gleiche Sequenz. Lange dachte man, diese Teile des Erbguts hätten keine Funktion. Heute weiß man: Sie können durchaus von Bedeutung sein. Aber sie stellen die Forschenden bei der Analyse vor ein Problem.

DNA-Puzzle mit viel zu vielen Teilen

Tobias Lenz, Biologe an der Universität Hamburg erklärt: "Die Schwierigkeit ist das Zusammenbauen der DNA-Sequenzen, die man gefunden hat." Denn bisher konnte man immer nur kurze Fragmente ablesen. Das Ergebnis: viele recht kurze Schnipsel, die sich durch die Wiederholungen sehr ähneln.

Diese in die richtige Reihenfolge zu bringen, ähnelt einem Puzzle, das als Motiv ein Muster hat, das sich immer wiederholt. Da wird es ziemlich mühsam, alles korrekt zusammenzusetzen, wenn man nur viele einzelne Puzzleteile hat. Hat man bei einem Puzzle jedoch größere zusammenhängende Stücke, wird es viel leichter, alles korrekt zusammenzulegen.

Und das ist es, was mit den neuen, modernen Techniken möglich ist: Sie erlauben es den Forschenden lange Sequenzen der DNA auf einmal abzulesen. Und auch für das richtige Kombinieren der Einzelstücke gibt es heute bessere technische Möglichkeiten als noch vor wenigen Jahren.

Genetische Informationen in nie da gewesener Qualität

2022 gelang es so, das erste menschliche Genom von vorne bis hinten zusammenzusetzen. Jetzt kamen die Erbinformationen von sechs Menschenaffenarten hinzu. 123 Forschende waren daran beteiligt, koordiniert von der Gruppe um Evan Eichler an der Universität Washington.

"Dieses Projekt ist so umfangreich, dass es nicht von einzelnen Arbeitsgruppen gemacht werden kann. Das geht nur durch die Expertise von vielen Gruppen", so der Hamburger Biologe Lenz. Er und seine Gruppe waren auch Teil des Projekts: Sie analysierten Gene des Immunsystems der Affen.

Das Gesamtergebnis der internationalen Zusammenarbeit ist die genetische Information von unseren nächsten Verwandten in nie da gewesener Qualität.

Möglicher medizinischer Nutzen der Affen-Genome

Damit könnten die großen Fragen wie "Was macht uns zum Menschen?" weiter erforscht werden. Aber durch die Analyse der unterschiedlichen Gensequenzen könne man auch Informationen ableiten, die für die medizinische Forschung wichtig werden könnten, sagt Iker Rivas-González, der ebenfalls an dem Projekt beteiligt war:

"Um zu verstehen, welche Teile des Genoms wichtig für Krankheiten sind, können wir schauen, welche Teile über Generation konserviert wurden, sich also nur wenig verändert haben."

Denn wenn Sequenzen über einen großen, evolutionären Zeitrahmen gleichbleiben, dann sei das ein Zeichen dafür, dass diese Teile der genetischen Information sehr wichtig sind, so der Evolutionsbiologe. Hier lohne es sich dann, genauer hinzuschauen.

Aber auch für den Schutz der Affen selbst könnten die neuen genetischen Daten genutzt werden. Denn wenn Arten in immer kleineren Gruppen leben, können sich schädliche Veränderungen in ihrem Erbgut ansammeln. Um diese zu analysieren und im Zweifel gezielt einzugreifen, braucht man ein gutes Nachschlagewerk, mit dem man die Genome der bedrohten Affen vergleichen kann.

Viele weitere Genome könnten folgen

Vermutlich werden Schimpanse, Bonobo und Co. nicht die letzten Arten sein, deren Erbinformation in einer solchen Tiefe analysiert werden.

Tobias Lenz von der Universität Hamburg sagt: "Es gibt sehr viele andere Tier- und Pflanzenarten, für die es schon Genome gibt - aber bei denen fehlen die Bereiche mit den vielen Wiederholungen in der Sequenz." Der Mensch und seine nächsten Verwandten seien nur die ersten Kandidaten für die Analyse mit den neuen Methoden gewesen. Wahrscheinlich folgen viele weitere.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 06. April 2025 um 17:52 Uhr.