
Altlasten in Nord- und Ostsee Wie Weltkriegsmunition geborgen werden soll
Hunderttausende Tonnen Weltkriegsmunition rosten in Nord- und Ostsee vor sich hin - und setzen immer mehr Giftstoffe frei. Nun arbeitet die Fachwelt daran, die versunkenen Patronen, Granaten und Bomben zu bergen.
Geschätzte 1,6 Millionen Tonnen Altmunition liegen auf dem Grund der deutschen Meere. "Eine kaum fassbare Menge", sagt Jennifer Strehse, Toxikologin an der Universität Kiel. "Das würde ausreichen, einen Güterzug zu beladen, der von Kiel bis nach Rom reicht."
Ein Teil der Kampfmittel war während der beiden Weltkriege als Blindgänger in den Fluten versunken. Das meiste jedoch wurde nach 1945 von den Alliierten ins Meer verklappt - also entsorgt. Unter anderem aus der Befürchtung, die Deutschen könnten die Kriegsmunition für Terroranschläge und Partisanenkriege nutzen.
Salzwasser nagt an Hülsen
Nun rosten die Patronen, Torpedos und Bomben vor sich hin - und bilden ein steigendes Risiko für Mensch und Umwelt. Der Grund: Das Salzwasser nagt beständig an den Hülsen der Munition. Das Metall korrodiert, es zersetzt sich also, und immer mehr Giftstoffe wie TNT, Quecksilber, Arsen und Blei geraten ins Meer.
In Miesmuscheln aus Munitionsversenkungsgebieten haben Forschende bereits bedenkliche Konzentrationen des krebserregenden TNT nachgewiesen. Auch bei manchen Fischen konnten sie verdächtige Veränderungen beobachten, etwa in deren Leber.
Gefahr für Mensch und Meer
"Für Menschen, die regelmäßig Fisch essen, ist das Risiko zwar derzeit noch überschaubar", erklärt Strehse. "Aber je stärker die Hülsen korrodieren, desto mehr Giftstoffe können in die Nahrungskette gelangen." Und nicht nur die Chemie ist gefährlich - die Munition ist zum Teil noch immer explosionsfähig. Bei Bauarbeiten oder durch Fischernetze und Anker drohen gefährliche Zwischenfälle.
Besonders kritisch ist die Situation in der Ostsee: Viele der von den Alliierten genutzten Versenkungsgebiete liegen nahe der Küste und in flachem Wasser. "Da reicht es oft schon, zu schnorcheln, dann kann ich Munition unterschiedlichsten Kalibers bergen", warnt Jens Greinert vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. "Auch unter Sicherheitsaspekten wird das immer mehr zu einem Risiko."
Bergen statt Sprengen
Lange hatte die Politik das Problem ignoriert. Erst vor einigen Jahren reagierte sie und legte ein Forschungsprogramm auf, mit einem Umfang von 100 Millionen Euro. Damit soll die Technik entwickelt werden, mit der sich die Altlasten im großen Maßstab bergen lassen.
Eine gängige Methode eignet sich dafür kaum - die Munition einfach unter Wasser zu sprengen. "Der Sprengstoff wird dabei nicht vollständig umgesetzt und verteilt sich in der Umgebung", erläutert Strehse. "Das vergrößert die kontaminierten Areale." Außerdem gefährden die Sprengungen die Meeresfauna: Im Extremfall können die Druckwellen Schweinswale töten.
Die Fachwelt setzt stattdessen auf die gezielte Bergung und anschließende Entsorgung. Erste Tests laufen bereits. In der Lübecker Bucht wurden im vergangenen Jahr rund 13 Tonnen Munition geborgen - mithilfe von mit Greifarmen bestückten Unterwasserrobotern und sogenannten Crawlern, die wie ferngesteuerte Raupen über den Meeresboden fahren.
Allerdings erlebten die Fachleute bei ihren Pilotversuchen manch unliebsame Überraschung: "Wir dachten zunächst, es sei einfacher", sagt Jens Greinert. "Aber die Munitionsreste sind oft ineinander verknäult, und während manche der Metallhülsen noch intakt scheinen, sind andere bereits völlig zerfallen." Auch musste das Team feststellen, dass manche der Altlasten im Laufe der Zeit mehrere Meter tief ins Sediment eingesunken sind.
Entsorgung auf hoher See
Trotzdem scheint eine großflächige Bergung machbar - vor allem in Küstennähe, wo die Risiken am größten sind. "Alles, was oberflächlich liegt und ohne viel Baggern erreichbar ist, muss raus", fordert Greinert. Um das zu schaffen, will die Fachwelt die Bergungstechniken nun weiter verfeinern.
Eine Herausforderung stellt auch die Entsorgung der schieren Mengen an Giftstoffen dar. Auf lange Sicht soll dies nicht an Land erfolgen. Stattdessen sollen mobile Plattformen auf hoher See den Explosiv-Unrat unschädlich machen, etwa in speziellen Verbrennungsöfen. Ab 2026 wollen die Fachleute den ersten Prototyp einer solchen Schwimm-Plattform erproben.
Trotz aller Herausforderungen gibt sich Jens Greinert optimistisch: "Meiner Meinung nach ist es möglich, die deutschen Ostsee-Gewässer bis Ende 2040 weitgehend munitionsfrei zu bekommen", meint der GEOMAR-Forscher. Die Voraussetzung allerdings ist, dass die Politik am Thema dranbleibt und die nötigen Geldmittel fließen lässt - es dürfte sich um Milliarden handeln.