An der Grenze sichergestelltes Fentanyl und Crystal Meth
Reportage

Besuch in der US-Stadt Huntington Mehr Tote durch Drogen als durch Corona

Stand: 23.06.2021 10:58 Uhr

Huntington im US-Bundesstaat West Virginia hält seit Jahren den traurigen Rekord der meisten Drogentoten. In der Pandemie hat sich die Zahl der Überdosis-Opfer noch mal verdoppelt.

Ein Spätnachmittag bei "Rebuild". Der Nachbarschaftstreff in einer gemütlich-abgewohnten Backstein-Villa liegt zwischen vielen leerstehenden Häusern in Huntington. Auch Luke ist auf ein Schwätzchen vorbeigekommen. Der 41-Jährige mit Glatze und Kruzifix um den Hals kämpft seit über 20 Jahren gegen seine Drogensucht. Damit er nicht Heroin spritzt, bekommt Luke seit fünf Jahren die Ersatzdroge Buprenorphin. Vor knapp drei Monaten wurde er trotzdem rückfällig - und rauchte Crack.

Ich glaube, es war einfach Langeweile", sagt er. "Jetzt habe ich einen Job und habe seit zwei Monaten nichts genommen. Ich hing 15 Jahre an der Nadel. Wenn man damit aufhört, dann muss man auch was finden, um die Zeit zu füllen. Denn das war mein Leben.

Luke ist einer von Tausenden Suchtkranken in der Hafenstadt am Ohio River. Gut 45.000 Menschen leben hier. Rund zehn Prozent von ihnen sind laut offiziellen Schätzungen abhängig. Huntington hält schon seit Jahren den traurigen Rekord der meisten Drogentoten. Im Pandemie-Jahr 2020 hat sich die Zahl der Überdosis-Opfer noch mal verdoppelt. Luke hat über 20 Freunde verloren in den vergangenen Jahren - genau wie Laura Cooper.

"Ich glaube, es war die Isolation"

Die 39-Jährige mit den langen grau-blonden Haaren arbeitet als Sozialarbeiterin für die Obdachlosen-Initiative von Huntington. Bis vor drei Jahren nahm sie selbst Drogen: "Ich gehe zu Narcotics Anonymous. Aber wir konnten lange keine Treffen haben. Viele meiner Freunde sind in diesen Monaten gestorben. Ich glaube, es war die Isolation."

Außerdem hätten viele Drogenabhängige dank der staatlichen Pandemie-Hilfen auf einmal unverhofft mehr Geld gehabt. Auch das habe das Drogenproblem nur verstärkt, sagt Laura.

Hilfen für den Überdosis-Fall

1000 Menschen ohne Wohnsitz, die meisten mit Suchtproblemen, betreut die Obdachlosen-Initiative in ihrer Tagesstätte pro Jahr. Hier gibt es was zu essen und einen Fernseher, die Gäste können ihre Wertsachen in Schließfächern unterbringen - und es gibt Hilfe für den Überdosis-Fall.

Marissa Clark ist die Vizechefin der Einrichtung - und demonstriert, wie das Opioid-Gegenmittel Naloxon angewandt wird: Eine simple Spritze in den Oberschenkel. Das Medikament wirkt bei einer Vergiftung mit sämtlichen Opioiden.

Die meisten Süchtigen waren allein in der Pandemie

Auch bei Fentanyl. Die synthetische Droge, ursprünglich ein Schmerzmittel für Krebspatienten im Endstadion, führt schon bei kleinsten Überdosen zum Atemstillstand - und sie wird von Dealern mit allen möglichen Drogen verschnitten, so dass die Abhängigen gar nicht wissen, wovon sie gerade high werden.

In den vergangenen Jahren wurde das Gegenmittel in Huntington an Abhängige, ihre Angehörigen und Freunde verteilt. Aber während der Pandemie seien die Süchtigen - wie die meisten Menschen - allein gewesen, sagt Marissa: "Ein Faktor ist: Niemand mit dem Gegenmittel in der Nähe. Aber ein Faktor ist auch: Ich habe meine Freunde seit Wochen nicht gesehen, das zieht mich echt runter."

Ohne Jobs keine Hoffnung

Viel mehr Tote durch eine Überdosis als durch Covid, das ist die Bilanz in Huntington. Aber Marissa hofft, dass mit dem Ende der Pandemie auch wieder mehr Menschenleben gerettet werden können. Die Opioid-Krise an sich wird das nicht lösen. Um die vielen Suchtkranken hat sich zwar eine florierende Industrie an Hilfsorganisationen, Entzugs - und Reha-Kliniken gebildet. Aber gutbezahlte Jobs mit Perspektive für Männer wie ihn gebe es nicht, klagt der Suchtkranke Luke. Ohne Jobs auch keine Hoffnung. Aber die hätten viele Menschen in Huntington ohnehin längst verloren.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 23. Juni 2021 um 08:39 Uhr.