
Griechenland nach der Finanzkrise Die Krise ist noch lange nicht "over"
2015 drohte Griechenland die Staatspleite. Das Land wurde zu massiven Sparmaßnahmen verdonnert. Heute steht die Wirtschaft besser da, doch die Folgen der Krise sind weiter spürbar.
Das berühmteste Ultimatum der Finanzgeschichte wurde gerade zehn Jahre alt. Als im Februar 2015 in Brüssel die Finanzminister der Euro-Zone wieder einmal darüber diskutierten, ob das hoch verschuldete Griechenland einen weiteren Überbrückungskredit bekommt, ob Athen unter den Euro-Rettungsschirm kommt, da erinnerte der damalige deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble seinen griechischen Kollegen Yanis Varoufakis nachdrücklich an eine Frist: "Am 28., 24 Uhr, isch over."
Sollte heißen: Weitere Finanzhilfen für Griechenland würde es nur geben, wenn Athen bis zum 28. Februar 2015 massive Sparauflagen erfüllt.
Schäuble habe damals viele Dinge gesagt, die nicht zu einer Verständigung beigetragen hätten, erinnert sich Varoufakis heute im Gespräch mit der ARD. "Ich habe das damals so interpretiert, dass sein Versuch, Griechenland mit einem Sparplan im Euro zu behalten, praktisch gescheitert war."

Finanzminister Schäuble mahnte und vermengte dabei 2015 auf einzigartige Weise sein schwäbisches Idiom mit dem Englischen. Die Mahnung an Finanzminister Varoufakis "Isch over" wurde zum geflügelten Wort.
Ein Image, das geblieben ist
Der Rest ist Geschichte: Es gab ein weiteres Hilfsprogramm. Die Mittel, die die EU und der Internationale Währungsfonds dem Land zur Verfügung stellten, summieren sich auf fast 280 Milliarden Euro.
Die griechische Regierung unter Premier Alexis Tsipras widersetzte sich lange den Sparauflagen, ließ sogar das Volk befragen. Die Antwort stand eigentlich schon vorher fest: "Nein" zu den Sparmaßnahmen! Tsipras musste dennoch einlenken. Varoufakis trat als Finanzminister zurück.
Das Bild vom "griechischen Patienten" wurde damals überstrapaziert und hält sich hartnäckig bis heute in den Köpfen: Griechenland, das ist doch das Land kurz vor der Pleite?
Von wegen: Griechenlands Staatsverschuldung ist heute immer noch hoch, aber stark gefallen, sie liegt bei 160 Prozent der Wirtschaftsleistung. 2020 waren es noch 209 Prozent.
Die Staatskasse verzeichnete zuletzt Überschüsse, Griechenland konnte Schulden vorzeitig zurückzahlen. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis von der konservativen Nea Dimokratia feiert das als seinen Erfolg: "Wir haben die Zeit der Krise hinter uns gelassen. Griechenland wächst deutlich schneller als der europäische Durchschnitt."
Die wichtigste Aufgabe: Mängelverwaltung
Doch viele im Land profitieren kaum von dem von der Regierung Mitsotakis gefeierten Erfolg. Denn der Sparkurs hat Folgen, zum Beispiel im Gesundheitssystem. Giorgos Vichas ist Kardiologe in einem medizinischen Versorgungszentrum bei Athen. Seine wichtigste Aufgabe ist: Mangelverwaltung. Es gibt zu wenig Personal, zu wenige Geräte, zu wenig von allem.
Vichas ist der einzige Kardiologe in einer Einrichtung, die außerhalb der Urlaubssaison ein Gebiet mit 60.000 Menschen versorgt und im Sommer deutlich mehr. Das Ultraschall-Gerät, mit dem Vichas seine Patienten untersucht, verdankt er einer großzügigen Spende aus Hamburg.
Die Folge des Mangels: "Die Lebenserwartung ist gesunken und der Prozentsatz der Menschen, die keine Vorsorgeuntersuchungen durchführen, ist enorm gestiegen", sagt Vichas. Denn wer für seine Gesundheit nicht privat bezahlen könne, habe aufgrund der Versorgungsengpässe im öffentlichen Gesundheitssystem ein Problem.

Es fehlt an allem - die Erfahrung prägt die Tätigkeit des Kardiologen Vichas.
Gesundheitsfolgen der Krisenzeit
In der Sprechstunde von Dr. Vichas trifft man ihn: den griechischen Patienten, in Gestalt von Achilleas Giolas. Der Rentner hat sich von der großen Krise vor zehn Jahren nie mehr so richtig erholt: "Ich musste meinen Beruf aufgeben - ein großer Verlust, einen neuen Job starten, dann bekam ich durch den ganzen Stress Vorhofflimmern."
Wie so viele Griechinnen und Griechen hat auch Giolias die Krisenjahre in traumatischer Erinnerung. "Ich erinnere mich an eine Familie mit vier Kindern, die sich nachts rausschlich, um die Tüte mit Lebensmitteln zu holen, die wir an der Mülltonne gelassen hatten, weil sie sich schämten gesehen zu werden."
Giolias musste sein Haus verkaufen, in eine Mietwohnung ziehen. Die Rücklagen, die eigentlich für den Ruhestand gedacht waren, sind schon lange aufgebraucht. Und die Rente reicht kaum bis zum Monatsende, "weil wir verschiedene Zahlungsverpflichtungen haben", sagt er.
Der Strom müsse bezahlt werden, die Lebensversicherung. "Und dann überlegen wir: Sollen wir kündigen? Und wenn was passiert?"
Einkommensverluste von Erwerbstätigen und Rentnern
Wie Giolias bekommen viele Griechen von dem Aufschwung ihres Landes nicht viel mit. 60 Prozent der Haushalte kommen mit ihrem Einkommen nicht über die Runden. Die Löhne und Renten sind im Vergleich zur Zeit vor der Finanzkrise gesunken - selbst wenn man die hohe Inflation nicht mit einbezieht.
Die monatliche Durchschnittsrente betrug 2009 rund 1.080 Euro, heute erhalten sechs von zehn Rentnern weniger als 1.000 Euro Rente. Die Durchschnittsrente liegt bei 839 Euro.
Ex-Finanzminister Varoufakis malt zehn Jahre nach der Krise ein düsteres Bild. Der Sparkurs habe sein Land ruiniert, von Aufschwung keine Spur. Im Gegenteil: Gut ausgebildete, junge Menschen verließen scharenweise das Land, "während Geld in dieses Land fließt, um mit Immobilien zu spekulieren. Oder in Staatsanleihen, also in Schulden zu investieren. Nicht in Produktion."
Nicht zurück zum alten Modell
Wirtschaftswissenschaftler Aggelos Tsakanikas von der Technischen Universität Athen ist dagegen zuversichtlicher. Die Regierung habe viel in Digitalisierung investiert, habe Global Player und Start-Ups angelockt.
Unternehmen, etwa aus dem Pharma-Bereich, hätten vermehrt in Griechenland investiert. "Natürlich wollen wir nicht zu einem früheren Wohlstandsmodell zurück, das nur aus Tourismus und Bauwesen bestanden hat", sagt Tsakanikas. "Ich bin etwas optimistischer, dass im Moment vorsichtiger vorgegangen wird. Ohne dass ich sagen will: Wir hätten unsere Lektion komplett gelernt."
Während Griechenlands Kreditwürdigkeit und Aufschwung heute international unbestritten sind, gilt für viele Griechinnen und Griechen: Die Krise ist noch lange nicht "over".
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