
Neuer Bundestag Von Konsens keine Spur
Die erste Sitzung des neuen Parlaments hatte kaum begonnen, da wurde der Ton rau. Mit gezielten Provokationen arbeitete sich die AfD an den Parteien ab - und stellte Bundestagspräsidentin Klöckner auf ihre erste Probe.
Gregor Gysi, der dienstälteste Abgeordnete des 21. Deutschen Bundestags, sitzt noch keine zwei Minuten auf dem Stuhl des Sitzungspräsidenten, da muss er schon Bernd Baumann von der AfD ans Rednerpult lassen. Denn dessen Fraktion findet, dass Gysi der Titel Alterspräsident und damit die Eröffnung der konstituierenden Sitzung gar nicht zustünden.
Das Argument: Alexander Gauland von der AfD sei mit seinen 84 Jahren um sieben Lebensjahre älter als Gysi - ihm, Gauland, falle damit der Vorsitz zu, sagt AfD-Fraktionsgeschäftsführer Baumann: "Nur um das zu verhindern, änderte dieses Kartell aus SPD, Union und Grünen die Geschäftsordnung - wie erbärmlich, wie perfide diese Aktion!"
Damit ist der Ton gesetzt für die Rolle der AfD in dieser konstituierenden Sitzung des Bundestags. Die Fraktion ganz rechts im Plenarsaal - sollte tatsächlich eine Koalitionsregierung aus Union und SPD zustande kommen, wird die AfD mit ihren 152 Abgeordneten zur größten Oppositionsfraktion - sie sieht sich auch zu Beginn der neuen Wahlperiode als Opfer einer Parteienverschwörung. Systematisch, so argumentiert sie, werde die AfD fern gehalten von wichtigen Positionen im Parlament, und das, obwohl sie ihre Stimmenzahl verdoppelt habe seit der vorletzten Bundestagswahl.
Gezielte Provokation der AfD
Auch die Bundestagsverwaltung selbst kritisiert der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner in einem Atemzug mit, denn die habe noch nicht mal genügend blaue Stühle für die größte Oppositionsfraktion aufgestellt: "Ich hoffe, ihr fühlt Euch wohl auf den Klappstühlen dahinten...", sagt Brandner an die Adresse der eigenen Leute ganz hinten im Saal. Eine ziemliche Übertreibung, denn einige der AfD-Hinterbänkler sitzen zwar auf provisorisch aufgestellten, aber immerhin gepolsterten Bürostühlen. Auch für die SPD-Fraktion gab es schon mal solche Ersatzstühle in den letzten Reihen, weil nicht genügend Stühle im üblichen Bundestags-Blau vorrätig waren.
AfD-Mann Brandner wird auch in dieser Sitzung seinem Image als rhetorischer Scharfmacher gerecht: Die Sozialdemokraten nennt er "Schrumpfgenossen" und eine "Mischpoke", Friedrich Merz einen "Wahlbetrüger", und überhaupt sei ganz Deutschland "ruiniert".
Es dauerte in der Vergangenheit oft nur wenige Augenblicke, bis solche Redeausschnitte auf AfD-nahen Portalen im Netz auftauchten - die gezielte Provokation im Parlament dient der AfD mehr und mehr als klickträchtiger Social-Media-Feed.
Mihalic fordert verschärfte Geschäftsordnung
Irene Mihalic, Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion, regt deshalb in der Plenardebatte an, die Geschäftsordnung des Bundestags zu verschärfen. Das Parlament, sagt Mihalic mit Verweis auf die AfD, müsse sich zur Wehr setzen gegen diejenigen, die es verachteten. Mihalic plädiert dafür, "dass wir zum Beispiel nicht dulden, dass hier im Plenum rassistische, beleidigende, sexistische und extremistische Äußerungen fallen."
Solche Ausfälle zu ahnden, wird künftig eine der Hauptaufgaben von Julia Klöckner sein. Die erfahrene CDU-Politikerin und neugewählte Präsidentin des Bundestags vereint bei ihrer Wahl deutlich mehr Stimmen auf sich, als die wahrscheinlich künftige Koalition aus Union und SPD Sitze hat. Immerhin applaudieren auch die vorderen Reihen der AfD Klöckner zu ihrer neuen Funktion.
Klöckner: Streiten mit Stil und Respekt
Die 52-jährige Klöckner weiß, dass die AfD in ihrer neuen Größe - die Fraktion umfasst fast ein Viertel aller Abgeordneten - umso mehr Gelegenheiten suchen wird, Debatten zu dominieren. Klöckner und ihre Kolleginnen und Kollegen im Parlamentspräsidium haben künftig also eine Schlüsselposition bei der Bewahrung der Debattenkultur im Deutschen Bundestag.
Dementsprechend kündigt Klöckner an, sie werde ihr Amt mit Nachsicht führen - aber auch dort durchgreifen, wo es nötig sei. Mehrheiten hätten nämlich nicht automatisch recht, sagt sie - Minderheiten aber auch nicht: "Ich werde darauf achten, dass wir ein zivilisiertes Miteinander pflegen, und wenn wir es nicht tun, dann erlernen. Es kommt beim Streiten auf den Stil an und auch auf den Respekt."
AfD-Kandidat verliert Abstimmung
Die allseitige Zustimmung zur Wahl Julia Klöckners ist dann mit der Wahl ihrer Stellvertreterinnen und Stellvertreter aber schnell wieder zu Ende. Alle Vizepräsidenten von Union, SPD, Grünen und Linkspartei kommen auf Anhieb durch - nur der AfD-Kandidat Gerold Otten, ein ehemaliger Luftwaffenoffizier, fällt beim Plenum durch, auch im zweiten und dritten Wahlgang, in dem die Mehrheit der abgegebenen Stimmen gereicht hätte.
"Das ist heute ein Trauertag für die deutsche Demokratie, für den deutschen Parlamentarismus", kommentiert der gescheiterte AfD-Kandidat anschließend im Foyer. Denn ohne seinen Vize-Posten seien nun rund zehn Millionen AfD-Wähler nicht im Bundestagspräsidium vertreten. Tino Chrupalla und Alice Weidel, die Partei- und Fraktionschefs der AfD, stehen Otten demonstrativ zur Seite - lassen aber offen, ob und wann ihre Fraktion einen anderen Kandidaten für den Stellvertreter-Posten benennt.
Bislang kein AfD-Abgeordneter im Präsidium
Seit dem Einzug der AfD in den Bundestag 2017 hat es noch kein einziger AfD-Abgeordneter ins Präsidium geschafft. Und das Bundesverfassungsgericht hatte zuletzt bekräftigt, dass die Partei auch keinen Anspruch auf bestimmte Positionen im Präsidium habe - vielmehr müsse die AfD eben Kandidaten aufstellen, die eine Mehrheit der Abgeordneten fänden.
Ausnahmen von dieser Form der institutionellen Isolation der in Teilen rechtsextremen AfD gab es bisher nur wenige: So führte etwa der AfD-Politiker Kay Gottschalk bis zum Sommer 2021 den Vorsitz im Wirecard-Untersuchungsausschuss - in dem es über die Bewertung dieses Wirtschaftsskandals durchaus unterschiedliche Ansichten gab, der aber insgesamt ordentlich funktionierte.
Zurück in den Plenarsaal - drinnen spielt zum Abschluss am späten Nachmittag ein Bläserquintett: Am Ende der ersten Sitzung einer Wahlperiode steht immer die Nationalhymne, und alle Abgeordneten, von ganz links im Saal bis ganz rechts, erheben sich und singen mit. Die eine verhalten, der andere aus voller Brust - zumindest ein musikalischer Konsens am Beginn einer Wahlperiode, die kaum weniger Streitthemen bieten wird als die vergangene. Mehr Konsens im Plenum? Das bleibt am ersten Sitzungstag der 21. Wahlperiode eine Wunschvorstellung.