
Analyse von BND und Bundeswehr Bereitet Russland einen Angriff auf die NATO vor?
BND und Bundeswehr warnen so deutlich wie selten zuvor vor der Gefahr eines russischen Angriffs auf NATO-Territorium. Weshalb die Alarmstimmung? Lageanalysen verschiedener Geheimdienste, die WDR, NDR und SZ auswerten konnten, liefern Einblicke.
Der Ton, der in den Worten von Carsten Breuer mitschwang, klang alarmierter als zuvor. Der Generalinspekteur der Bundeswehr saß vergangene Woche als ARD-Talkshowgast bei Sandra Maischberger. Ob der Westen nach einem möglichen Waffenstillstand in der Ukraine durchatmen könne, fragte ihn die Moderatorin.
Breuer reagierte mit der für seinen Posten notwendigen Vorsicht und doch ungewöhnlich deutlich: Nein, man könne nicht durchatmen. Es gehe Russlands Präsidenten Wladimir Putin nicht nur um die Ukraine. Russland rüste weiter auf.
Das Ende des Ukraine-Kriegs werde nicht dazu führen, dass "wir wieder Frieden auf dem europäischen Kontinent haben". Schließlich brachte es Carlo Masala, Professor an der Bundeswehr Universität in München, auf den Punkt: "Russland bereitet sich auf einen großen Krieg vor."
Dauerhafte Bedrohung für Europa
In diesen Tagen warnen insbesondere Bundeswehrvertreter so direkt und deutlich wie selten zuvor vor einer dauerhaften Bedrohung für den Frieden in Europa durch Russland und einem möglichen Angriff auf einen NATO-Staat. Eine Grundlage für die verschärfte Einschätzung sind nach Recherchen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung mehrere neue Lagebewertungen europäischer Nachrichtendienste, darunter eine gemeinsame des Bundesnachrichtendienstes (BND) und der Bundeswehr.
In deren Bericht heißt es, Russland schaffe bis zum Ende der Dekade wohl alle Voraussetzungen, einen "großmaßstäblichen konventionellen Krieg" führen zu können.
Imperialistische Ziele
Diese Lageeinschätzung ist erst wenige Wochen alt. Das Papier erklärt, warum sich sowohl Militärexperten als Bundeswehrvertreter in jüngster Zeit so alarmiert äußerten. Denn die Analysten skizzieren in diesem Bericht, wie sich die Bedrohungslage aus ihrer Sicht darstellt.
Es ist eine Zusammenfassung und Bewertung von Informationen, die von Bundeswehr und BND in den vergangenen Jahren gesammelt wurden. Dazu zählen neben offenen Quellen vor allem nachrichtendienstliche Erkenntnisse, Satellitenaufklärung, und Analysen zur wirtschaftlichen und militärischen Situation. Mehrfach werden die Prognosen darin als "nahezu sicher" beschrieben - die höchste Kategorie in der Bewertungsskala der Nachrichtendienste.
Die Kernaussage der Analyse legt für den Westen die Schlussfolgerung nahe, dass sich der Konflikt mit Moskau ausweiten und lange andauern könne. Russland, so heißt es, sehe sich in einem Systemkonflikt mit dem Westen und sei bereit, seine imperialistischen Ziele mit militärischer Gewalt umzusetzen, und zwar über die Ukraine hinaus, auch wenn derzeit keine Hinweise auf eine "unmittelbar bevorstehende russische Konfrontation mit der NATO" vorlägen.
Begrenzte militärische Aktion bald möglich
Die russischen Streitkräfte, heißt es weiter, agierten in der Ukraine bereits seit einiger Zeit aus einer Position der Stärke heraus. Moskau zeige keine wirklich ernstgemeinten Anzeichen für eine Kompromissbereitschaft mit Bezug auf den Konflikt und könne den Krieg auch in diesem Jahr fortsetzen, so die Prognose der Geheimdienst- und Militäranalysten. Trotz der Sanktionen sei Russland in der Lage, sich militärisch so aufzustellen, dass es bald schon einen NATO-Staat angreifen könne.
Diese Einschätzung deckt sich mit einer vertraulichen Analyse des litauischen Inlandsnachrichtendienstes VSD. Dieser gilt in Sicherheitskreisen als hervorragender Russland-Kenner. In dem VSD-Report kommen die Analysten in Vilnius zu dem Schluss, dass Russland zwar mittelfristig noch nicht in der Lage sein werde, "einen groß angelegten konventionellen Krieg gegen die NATO" zu führen. Russlands Fähigkeiten reichten aber trotz des Kriegs in der Ukraine aus, um "eine begrenzte militärische Aktion gegen ein oder mehrere NATO-Länder zu starten".

Russland verfüge auch weiter über genügend Munition, heißt es in dem VSD-Papier. "Während sich die westlichen Sanktionen negativ auf die russische Rüstungsindustrie ausgewirkt haben, steigt das Produktionsvolumen von Artilleriegranaten, Raketen und anderen wichtigen Munitionskategorien von Jahr zu Jahr", so die Analysten des litauischen Geheimdienstes. Russland sei immer noch in der Lage, den Krieg zu finanzieren. "Russland hat die Grenze seiner finanziellen Leistungsfähigkeit noch nicht erreicht", heißt es weiter. Die Militärausgaben des Kreml seien zuletzt "jedes Jahr in atemberaubendem Tempo gestiegen". Sie würden 2025 bei rund 120 Milliarden Euro liegen.
Lehren aus den vergangenen Jahren
Die hohen Verluste an Personal und Material in der Ukraine könne Russland nicht nur ausgleichen, sondern es könne die Aufrüstung sogar noch vorantreiben, heißt es auch beim deutschen Nachrichtendienst. Durch die von Russland betriebene Kriegswirtschaft werde mehr produziert als für den Krieg gegen die Ukraine benötigt werde, so die Lagebewertung. Putin habe zudem angeordnet, bis 2026 bis zu 1,5 Millionen weitere Soldaten zu rekrutieren.
Dass der deutsche BND ebenso scharf und fast schon alarmierend analysiert, könnte auch eine Lehre aus unglücklichen Einschätzungen der vergangenen Jahre sein. Nach der chaotischen Evakuierung der deutschen Botschaft in Kabul im August 2021 musste sich der Dienst die Kritik gefallen lassen, dass er seine Szenarien nicht schnell genug an die damaligen Entwicklungen angepasst habe.
Auch mit Blick auf den Start des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wirkte der Dienst zunächst unglücklich: Als Russland im Winter 2021/2022 Truppen an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren ließ, hielten es auch im BND längst nicht alle für wahrscheinlich, dass Putin tatsächlich einen Einmarsch wagen würde.
Bündnisfall testen
Dabei waren die Anzeichen damals ziemlich eindeutig. Die US-Geheimdienste etwa warnten: Es würden bereits Blutkonserven herantransportiert. Zudem wurde ein Gesetz in Russland geändert, dass es erlaubt, Massengräber für im Krieg Gefallene anzulegen. Niemand, so die Amerikaner damals, brauche das für eine Übung.
Beim Nachrichtendienst will man sich womöglich nun nicht vorwerfen lassen, die Zeichen der Zeit nicht erkannt oder falsch gedeutet zu haben. BND-Präsident Bruno Kahl warnte daher schon Ende November: Russlands Militärs zweifelten an der Verteidigungsbereitschaft der NATO, Moskau könnte schon sehr bald den Bündnisfall austesten wollen.
Luftwaffe und Marine im Baltikum handlungsfähig
Wo aber könnte solch ein jetzt skizzierter Testfall für die NATO stattfinden? Als besonders gefährdet gilt das Baltikum, früher Teil der Sowjetunion, in der Putin-Doktrin demnach verloren gegangenes Territorium des Imperiums. Auch mit der dortigen Situation haben sich die Fachleute von BND und Bundeswehr befasst und kommen zu einem mehrdeutigen Fazit.
Rund Dreiviertel der Soldaten und des Materials der russischen Truppen aus den Grenzregionen zum Baltikum seien derzeit in der Ukraine gebunden. Dies gelte jedoch nicht für die russische Luftwaffe und die Marine, die in der baltischen Region weiterhin voll handlungsfähig seien. Allerdings: Die Gefahr eines russischen Einmarsches in die baltischen Staaten sei aktuell eher als gering zu bewerten. Dies aber könnte sich schnell ändern.
Baltikum besser gewappnet
Falls es in der Ukraine zu einem Waffenstillstand oder einer wie auch immer gearteten Friedenssituation kommt, dann sei es sehr wahrscheinlich, dass die russischen Einheiten zurückverlegt werden würden. Aufgrund der Aufrüstung sei das in der Ukraine verlorene Material dann wohl längst ersetzt worden: Die russischen Soldaten kämen zurück und die Kasernen und Waffenlager wären schon wieder voll. Russland könne dann seine Kräfte unmittelbar auf ein NATO-Land konzentrieren.
Allerdings führen die deutschen Analysten auch ermutigende Aspekte aus: Der Einfluss Russlands in den drei baltischen Staaten, sowohl politisch, als auch gesellschaftlich und wirtschaftlich, sei erheblich zurückgegangen. Die russischsprachigen Bürgerinnen und Bürger würden immer besser integriert, die Resilienz in der Bevölkerung gegen Destabilisierungs- und Einflussnahmeversuche aus Moskau sei gestärkt worden. All dies seien Entwicklungen der vergangenen Jahre, die eine russische Expansion zumindest erschwerten.