
Hensoldt-Chef Dörre "Da muss sich die ganze Industrie neu aufstellen"
Künftig investiert Deutschland gewaltige Summen in die Verteidigung. Oliver Dörr, Chef des Rüstungskonzerns Hensoldt, erklärt im Interview, was seine Branche durch den Ukraine-Krieg gelernt hat und warum die Industrie schneller lernt als die Bundeswehr.
tagesschau.de: Seit dem ersten Sondervermögen von 100 Milliarden gehen Ihre Umsätze durch die Decke. Was erwarten Sie jetzt? Was wird von dem nächsten "Wumms" in ihren Büchern hängen bleiben?
Oliver Dörre: Der nächste Wumms, wie Sie so schön sagen, gibt uns Planungssicherheit. Hensoldt hat Investitionen getätigt, um die Kapazität nach oben zu bringen. Insofern bestätigt uns das jetzt. Ich glaube, dieses neue Budget zeigt einen Paradigmenwechsel. Es geht darum, militärische Fähigkeiten zu definieren. Was sind die Fähigkeiten in der Luftverteidigung, im Weltraum, bei Aufklärungssystemen? Da werden wir sicherlich eine große Rolle spielen können. Aber um zu sagen, was konkret für uns übrigbleibt, ist es zu früh.
Grenzen der Preiskalkulation
tagesschau.de: Was hält Sie als Geschäftsmann ab, bei der aktuellen und zu erwartenden Nachfrage die Preise kräftig zu erhöhen?
Dörre: Auf der einen Seite gilt bei öffentlichen Aufträgen das Preisrecht. Im deutschen Geschäft müssen wir jeden einzelnen Aspekt nachweisen: die Stundensätze, die Materialkosten, den Wert der Anlagen. Da wird dann über die sogenannte Bonner Formel mit einem festen Gewinnaufschlag ein Preis berechnet. Das hat natürlich Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber ausländischen Anbietern und für die Risikobereitschaft deutscher Unternehmen. Unsere Preiskalkulation ist begrenzt. Da können wir nicht davon reden, wie wir unseren Gewinn steigern.
Auf der anderen Seite: Wir leisten als Unternehmen unseren Beitrag. Das werden wir natürlich wirtschaftlich auskömmlich tun. Das werden wir mit Blick auf die Anforderung des Marktes tun. Aber ich glaube, die Lage ist zu ernst, als dass wir jetzt hier ein wirtschaftliches Interesse in den Vordergrund stellen können.
"Wir brauchen ein neues Miteinander"
tagesschau.de: Was muss die Rüstungsindustrie nach Jahren des Friedens wieder neu lernen?
Dörre: Wir kommen von kleinen Serien und müssen in groß angelegte Fertigung investieren. Da haben wir mit dem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro schon einen guten Schritt gemacht. Bei Hensoldt haben wir zum Beispiel die Kapazitäten für unser Luftverteidigungsradar von drei auf 15 Geräte pro Jahr erhöht. Wir haben auch sonst zusätzliche Kapazitäten geschaffen. Das ging mit Lernen und Wachstumsschmerz einher.
Wo wir noch lernen müssen, ist beim Miteinander der Unternehmen. In Anbetracht der wirklich komplexen und vielfältigen Herausforderungen kann ich sagen: Das kann keiner allein. Wir brauchen ein neues Miteinander. Da haben wir noch einen Lernweg zu gehen. Das betrifft aber auch den vertrauensvollen Umgang zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und der Industrie.
Industrie lernt schneller als die Bundeswehr
tagesschau.de: Welche Erfahrungen machen Sie mit dem nicht gut beleumundeten Beschaffungsamt der Bundeswehr?
Dörre: Ich stimme nicht in die Kritik ein. Ich sehe das Wasserglas als halb voll und nicht halb leer. Ich glaube, wir haben in den letzten drei Jahren auf beiden Seiten eine Menge dazugelernt - in der Industrie, aber auch in der Bundeswehr. Ich glaube aber auch, dass die Lernkurve nicht am Ende ist. Jetzt, wo die finanziellen Voraussetzungen geklärt sind, müssen wir darüber nachdenken, wie wir die Zusammenarbeit zwischen der Beschaffungsbehörde und der Industrie weiterentwickeln.
tagesschau.de: Wer ist schneller im Lernen - Bundeswehr oder Industrie?
Dörre: Die Industrie.
Weiterentwicklung "im laufenden Gefecht"
tagesschau.de: Was hat Ihr Unternehmen aus dem Krieg in der Ukraine gelernt?
Dörre: Zunächst mal haben wir mitgenommen, dass wir in deutlich größerer Stückzahl und vor allem deutlich schneller liefern müssen. Wir haben auch gelernt, dass wir unsere Systeme im laufenden Gefecht weiter entwickeln müssen. In der Vergangenheit war es ja häufig so, dass wir Systeme für Lebenszeiten von zehn bis zwanzig Jahren konzipiert haben. In dem Konflikt in der Ukraine sehen wir, dass wir unsere Systeme laufend an die Bedrohung anpassen und weiter entwickeln müssen. Da muss sich die ganze Industrie neu aufstellen.
Und in breiterer Hinsicht haben wir gelernt, dass unsere Technik in tatsächlichen Konfliktszenarien funktioniert. Damit haben wir ein klares Argument, warum unser Luftverteidigungssystem Teil der "European Sky Shield Initiative" ist.
Am Ende soll weiter ein Mensch entscheiden
tagesschau.de: Inwieweit spielt der moderne Krieg mit Massen von Billigdrohnen in Ihre Karten als Hightech-Hersteller?
Dörre: Es ist wichtig, dass wir als Hensoldt beide Elemente bedienen: Wir müssen auch in Zukunft Masse haben, um einem Gegner etwas entgegensetzen zu können. Hensoldt liefert da klassische Sensoren in hoher Stückzahl. Aber den Gefechtsvorteil müssen wir über "Klasse" ziehen: Innovation, Vernetzung. Wie schaffen wir Informationsüberlegenheit? Entscheidungsüberlegenheit? Wirkungsüberlegenheit? Da investiert Hensoldt stark in Software.
tagesschau.de: Ihr Vorgänger als Vorstandsvorsitzender hat seinerzeit für Hensoldt automatische Tötungsroboter mit Künstlicher Intelligenz ausgeschlossen. Ist das noch aktuell?
Dörre: Hensoldt ist stark in der Sensorik. Wir sind kein klassischer Waffenhersteller. Es ist ganz klar, und da stehe ich auch persönlich hinter: Hensoldt wird auf absehbare Zeit in Deutschland immer dafür sorgen, dass es einen "Man in the Loop" gibt, der bei Entscheidung über Leib und Leben die ethisch-moralische Komponente bedient.
Das Interview führte Ingo Nathusius, hr.