
Neue internationale Ordnung Wie die Türkei die Umwälzungen in Europa nutzen will
Die Krise zwischen Europa und den USA wirkt sich auch auf die Türkei aus. Das Land begreift die Veränderungen als unerwartete Chance - und will bei den neuen Bündnissen dabei sein.
Die Türkei sieht sich offenbar als Profiteur der Umwälzungen im transatlantischen Verhältnis. Man fühle sich in Ankara von den europäischen Partnern ernst genommen, heisst es derzeit unter Insidern. Vor allem, weil sich das Land eingebunden sehe.
Etwa, als Anfang März nach London zum Ukraine-Gipfel geladen wird und der türkische Außenminister Hakan Fidan mit dabei ist. Nur eines von mehreren Beispielen, die zeigen: Die Türkei ist anerkannter Partner auf Augenhöhe.
Aus Sicht von Präsident Recep Tayyip Erdogans sei dies eine logische Konsequenz, die Türkei wisse, dass sie im Prozess hin zu einer neuen europäischen Sicherheitsordnung eine gute Ausgangsposition hat, meint der Politikwissenschaftler und Experte für Sicherheits- und Strategiestudien an der Universität Bonn, Ulrich Schlie: "Wir sehen (…), dass die Türkei ihre Karte voll ausspielt und in dem Maße, wie Europa geschwächt ist, auch weiter ausspielen wird."
"Der Geist ist aus der Flasche"
Dass sich die europäischen NATO-Partner neu sortieren müssen, gilt in der Türkei als sicher. Denn, so die Außenpolitikexpertin Barcin Yinanc im Sender T24: "Es ist so weit, dass wir in Europa von jetzt an auf uns selbst aufpassen müssen, selbst wenn die USA in der NATO bleiben."
Und Außenminister Fidan, bringt es in einem Interview mit der Financial Times auf einen Punkt. Die übrigen NATO-Partner könnten sich auf die USA nicht mehr blind verlassen: "Der Geist ist aus der Flasche und es gibt keine Möglichkeit, ihn wieder hineinzubringen."
"Nicht ohne uns!"
In Brüssel weiß man das längst. Doch welche Rolle die Türkei dabei wird spielen dürfen, ist noch offen. Präsident Erdogan verweist auf die Tatsache, dass sein Land nach den USA derzeit die größte Armee in der NATO stelle. Wenn es jetzt um ein riesiges Rüstungsbeschaffungsprogramm in der EU gehe, sollte sein Land dabei sein, betont er.
Das Programm der Europäischen Verteidigungsindustrie innerhalb der Union sollte meiner Meinung nach allen europäischen Verbündeten offenstehen.
Schließlich gehe es um gemeinsame Interessen. Zudem unterstütze die Türkei die Ukraine - auch wenn zugleich ein enger Kontakt zu Russland besteht. Und die Türkei habe etwas zu bieten: Seit Jahren treibt Erdogan in seinem Land das voran, was in der EU offenbar zu kurz kam - der Aufbau einer eigenen Verteidigungsindustrie.
"Einfluss der Türkei wird wachsen"
Eine engere Einbindung der Türkei in eine künftige Sicherheitsstruktur könnte sich also lohnen. Nicht nur, um gegenüber Russland besser aufgestellt zu sein. Der Nahe Osten wird gerade neu sortiert - Ausgang offen. Fest aber steht, nach dem Sturz von Machthaber Baschar al Assad ist der russische Einfluss in Syrien und damit wohl in der gesamten Region eher zurückgegangen.
Eine Lücke, in die die Türkei weiter vorstoßen wird als sie es jetzt schon tut, meint Politikwissenschaftler Schlie: "Wir haben noch keine klare geopolitische Ausrichtung der Region, aber wir werden einen stärkeren türkischen Einfluss sehen." Dafür sprächen allein schon die guten Beziehungen zu den neuen Machthabern in Damaskus.
Wiederkehrende Frage nach EU-Mitgliedschaft
Erdogan nutzt so offenbar die Gunst der Stunde und versucht, seinen Einfluss auf die geopolitische Entwicklung zu nutzen. Immer wieder etwa drängt er auf eine Vollmitgliedschaft in der EU.
Diese sollte ihrerseits endlich ihre Haltung zur Türkei ändern, sagt ein Freund des Landes, der Botschafter Aserbaidschans in Deutschland, Nasimi Aghajew. Europa könne es sich nicht mehr leisten, wählerisch zu sein, denn "die Stabilität in der Türkei bedeutet auch Stabilität in Europa".
Die Türkei ihrerseits nähert sich den Anforderungen der EU offenbar weiter an. Der Friedensprozess mit der als terroristisch eingestuften PKK scheint voranzukommen. Und es gibt sogar Spekulationen, dass der frühere Vorsitzende der kurdisch geprägten HDP (heute DEM), Selahattin Demirtas, freikommen könnte, was der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schon lange fordert.
Türkische Journalisten berichten, in der EU-Kommission sei man sich einig, weiter auf die Türkei zugehen zu wollen. Zunächst dürfte es dabei um Visa-Erleichterungen und einen Ausbau der Zollunion gehen - und nicht um eine Vollmitgliedschaft. Unterm Strich aber könnten sich die Europäische Union und die Türkei über die Krise der NATO deutlich näherkommen.