
Festnahme von Imamoğlu in der Türkei "Ein Schritt zum vollen Autoritarismus"
Mit der Festnahme der wichtigsten Oppositionsfigur falle in der Türkei die letzte Fassade der Demokratie, meint Türkei-Expertin Aksoy. Wahrscheinlich werde Präsident Erdoğan damit trotzdem Erfolg haben - denn Rechtsstaatlichkeit gebe es nicht mehr.
tagesschau.de: Die Festnahme von Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoğlu wird mit Vorwürfen der Korruption und der Unterstützung der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK begründet. Ist die Begründung glaubhaft?
Hürcan Aslı Aksoy: Nein. Die Gründe sind nicht juristisch, sondern politisch. Der wahre Grund ist, dass Imamoğlu wie auch der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, - beide sind Mitglieder der Oppositionspartei CHP - in vielen Umfragen vor Präsident Recep Tayyip Erdoğan liegen. Beide sind daher ernsthafte Rivalen für Erdoğan, eine echte Herausforderung.
Imamoğlu ist ein charismatischer Politiker mit breiter gesellschaftlicher Unterstützung, der eine große Wählerschaft anspricht. Er hat nicht nur Sympathien innerhalb der Wählerschaft der CHP. Er kommt auch bei kurdischen Wählern und Wählerinnen gut an - und sogar bei konservativen Wählern und Wählerinnen, bei denen man davon ausgehen würde, dass sie Erdoğans AKP wählen. Diese Breite der gesellschaftlichen Unterstützung spiegelt sich auch in den Teilnehmern der Proteste, zu denen es jetzt in Istanbul gekommen ist.
Es ist klar: Durch diese Festnahme versucht Erdoğan einfach, seinen größten Rivalen auszuschalten.

"Es ist eine Art des zivilen Coups"
tagesschau.de: Warum findet diese Festnahme ausgerechnet jetzt statt?
Aksoy: Die CHP wollte am kommenden Sonntag ihren Spitzenkandidaten wählen. Durch die Festnahme will das Regime diese interne Wahl torpedieren, auf jeden Fall verhindern, dass Imamoğlu gewählt wird. Nun muss man schauen, ob das funktionieren wird. Wahrscheinlich wird die Vorwahl verboten.
Die Türkei ist schon lange ein autokratischer Staat - aber sie war bislang eine kompetitive Autokratie. Das heißt, dass trotz allem Wahlen stattfanden, auch wenn die Bedingungen nicht fair waren, sei es aufgrund von Behinderung von Kandidaten, von Ungleichbehandlung in den Medien, Beschränkungen in der Finanzierung oder auf anderen Wegen.
Aber diesmal sehen wir zum ersten Mal in der Geschichte, dass die Regierung sogar Partei-interne Wahlen verhindert. Es ist ein Schritt zum vollen Autoritarismus. Es ist eine Art des zivilen Coups.
"Keine ernstzunehmende Reaktionen aus der EU oder den USA"
tagesschau.de: Nutzt Erdoğan gerade auch den Moment großer außenpolitischer Stärke - man denke an die türkische Rolle in Syrien und vor allem ihre derzeitige Rolle in der europäischen Sicherheitskonstellation?
Aksoy: Ja, ganz klar kommen im Kalkül Erdoğans die regionalen und geopolitische Gegebenheiten hinzu. Die Regierung in Ankara weiß ganz genau, dass derzeit weder von der Europäischen Union noch von den USA irgendwelche ernstzunehmenden Reaktionen auf das innenpolitische Vorgehen kommen werden.
Es gibt Kritik von der EU, auch aus Deutschland - aber das sind derzeit sehr schwache Stimmen. Die USA haben kein Interesse, und Europa sitzt aufgrund der Geopolitik gerade nicht am längeren Hebel. Das weiß Erdoğans Regime.
Der Vorwurf der Unterstützung der PKK
tagesschau.de: Zurzeit gibt es einen Annäherungsprozess zwischen Erdoğans AKP und der kurdischen PKK. Wie passt das mit dem Vorwurf zusammen, Imamoğlu unterstütze die PKK?
Aksoy: Es ist in der Tat bizarr, wenn man bedenkt, dass die Regierung mit dem Chef der PKK gerade über eine Waffenruhe und Auflösung der PKK verhandelt. Das Vorgehen Erdoğans ist schwierig zu erklären. Welche Akteure die türkische Regierung als PKK und als deren Sympathisanten betrachtet, ändert sich ganz nach Belieben. Es ist völlig widersprüchlich.
Aber weil es in der Türkei keine Rechtsstaatlichkeit mehr gibt, lässt sich nur schwierig nachvollziehen, wie die Logik der Justiz und der Regierung funktioniert. Das Regime will sich die Opposition nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten. Dafür wird sie willkürlich umdefiniert.
Eine andere Logik können wir nicht mehr suchen. Wir versuchen zu verstehen, welche Vorwürfe es gibt, wie was gegen wen instrumentalisiert wird - und es ist beliebig. Nur eines können wir mit Sicherheit sagen: Die Fassade der Demokratie, das letzte bisschen politischer Wettbewerb, wird nun auch abgeschafft.
"Erdoğans Logik wird aufgehen"
tagesschau.de: Welche Auswirkungen wird die Festnahme innenpolitisch haben? Wird sie Erdoğan politisch stärken oder schwächen?
Aksoy: Das ist die Million-Dollar-Frage. Das kann in beide Richtungen gehen. Ende der 1990er-Jahre kam Erdoğan selber ins Gefängnis, als er Istanbuler Bürgermeister war. Als er rauskam, gründete er seine eigene Partei und ist nun seit 23 Jahren an der Macht.
Das Gleiche könne nun auch geschehen, sagen viele. Allerdings haben wir jetzt ein ganz anderes System: kein parlamentarisches mehr, sondern ein präsidentielles System, das auf Erdoğan zugeschnitten ist. Dabei braucht er jetzt allerdings auch 51 Prozent der Stimmen, um wieder gewählt zu werden. Und da er geschwächt ist, braucht er dafür wiederum immer größere, immer neue Allianzen.
Ich persönlich denke trotzdem, dass Erdoğans Logik aufgeht. Nicht unbedingt, weil sein Vorgehen gut bei den Wählern ankommt. Sondern weil er auf sein gesamtes staatliches System setzen kann, und das beinhaltet nicht nur den politischen Apparat, sondern auch die Justiz.
"Nachhaltige Schwächung der CHP"
tagesschau.de: Wie unabhängig ist die Justiz in der Türkei denn noch? Ist es gesetzt, dass Erdoğan mit seinen Vorwürfen gegen Imamoğlu durchkommt?
Aksoy: Die Justiz ist abhängig. Natürlich sind nicht alle Staatsanwälte und Richter Unterstützer Erdoğans. Aber trotzdem schafft die Justiz es nicht, unabhängig zu agieren. Es gibt keine Rechtsstaatlichkeit mehr in der Türkei. Sie war niemals völlig unabhängig von Exekutive und von Politik. Aber seit rund zehn Jahren ist sie völlig abhängig.
tagesschau.de: Wie stark wäre denn die CHP ohne Imamoğlu?
Aksoy: Als Partei hat die CHP derzeit so viel Unterstützung wie die AKP, um die 30 Prozent. Das ist mehr als noch vor wenigen Jahren. Imamoğlu ist nicht das einzige Zugpferd, auch Mansur Yavaş, der Bürgermeister von Ankara, ist sehr beliebt. Aber der findet viel weniger Zuspruch unter der kurdischen Wählerschaft.
Wenn Imamoğlu wegfallen würde, wäre das für die CHP ein enorm harter Schlag. Es würde bedeuten, dass die CHP ihren Kandidaten nicht schützen kann. Die CHP würde nicht zusammenbrechen, aber sie wäre nachhaltig geschwächt.
Es hängt auch natürlich davon ab, wie die Partei darauf reagiert. In der Türkei gibt es häufig Abspaltungen von Parteien - für die CHP wäre es also wichtig, auch ohne Imamoğlu Einigkeit zu zeigen. Sonst wäre die Schwächung wohl kaum umzukehren.
"Erdoğan plant, noch einmal anzutreten"
tagesschau.de: Ist das Vorgehen gegen Imamoğlu ein weiteres Indiz dafür, dass Erdoğan bei den kommenden Wahlen noch einmal kandidieren wird - auch, wenn das eigentlich rechtlich nicht vorgesehen ist?
Aksoy: Ja - es ist klar, dass Erdoğan plant, noch einmal anzutreten. Erdoğan hat auch schon gesagt, "wir werden so lange dienen, wie Gott uns das Leben schenkt". Das heißt, er würde gerne bis zu seinem Lebensende regieren - so wird die Aussage interpretiert.
Dafür kann er entweder die Verfassung ändern und, wie geplant, bei den Wahlen 2028 antreten. Oder das Parlament kann für ihn entscheiden, dass es vorgezogene Wahlen gibt - in dem Fall dürfte er auch nach derzeitigem Recht wieder antreten. Es ist auch denkbar, dass er sich dazu entscheidet, Wahlen zu annullieren - aber das scheint unwahrscheinlicher, da er ja gerade versucht, die Konkurrenz auszuschalten.
Ich denke, dass er sich dazu entscheiden wird, die nächsten Wahlen vorzuziehen - offiziell wird das dann das Parlament tun. Falls das Parlament da doch nicht mitmacht, kann er es auch mit einem Referendum versuchen. Wir werden sehen müssen, wie die Dinge sich entwickeln.
Das Gespräch führte Christoph Schwanitz, tagesschau.de