Ein Mitarbeiter des DRK-Suchdienstes sucht in der Zentralen Namenskartei in Hamburg. (Archiv)

Vermisstensuche nach Kriegsende "Wir haben geweint vor Freude"

Stand: 08.05.2025 20:45 Uhr

Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes hilft Angehörigen auch 80 Jahre nach Kriegsende bei der Schicksalsklärung vermisster Menschen. Wie fühlt es sich an, wenn es nach Jahrzehnten endlich Gewissheit gibt?

Elke Simon ist neun Jahre alt, als sie erfährt, dass sie adoptiert ist. 1954 ist das. Von dem Moment an, als ihre Adoptiveltern ihr die Geschichte erzählen, lassen sie zwei Gedanken nicht mehr los: Wer ist meine leibliche Mutter? Und: Gibt es da irgendwo noch Geschwister?

Simon wurde 1945 geboren, in der Nähe von Kiel, auch heute noch lebt sie in Rickling im schleswig-holsteinischen Kreis Segeberg. Wie so viele Familiengeschichten aus dieser Zeit ist auch ihre geprägt von Kriegswirren, der chaotischen unmittelbaren Nachkriegszeit, von Verlust, großer Ungewissheit und brennenden Fragen. Solange ihre Adoptiveltern leben, traut sie sich jedoch nicht, weiter nachzuforschen - zu groß ist die Angst, sie zu verletzen.

"Erst als meine Adoptivmutter 1986 gestorben ist, habe ich mich richtig auf die Suche gemacht", berichtet Simon. Ein erster Versuch scheitert. Doch sie lässt nicht locker. Mithilfe ihres damaligen Schwiegersohns wendet sie sich an den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes - diesmal ist sie erfolgreich.

Gewissheit auch noch nach Jahrzehnten

2021, mehr als 75 Jahre nach Kriegsende, bekommt Simon Gewissheit: Sie hat eine Halbschwester, 1941 geboren, und einen Halbbruder, ein Jahr älter als sie. Eine weitere Schwester ist früh gestorben. Genau wie ihre leibliche Mutter. Keines der drei überlebenden Geschwister wusste bis dato voneinander. "Wir haben geweint vor Freude, dass wir uns gefunden haben", erzählt Simon. 

Es sind Geschichten wie diese, die dem Suchdienst auch 80 Jahre nach Kriegsende noch seine Daseinsberechtigung geben, ist sich DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt sicher. "Das ist eine Frage der Erinnerungskultur und der Stärkung der Familien. Wir tragen damit dazu bei, dass über Generationen hinweg die Familienbande gestärkt werden", sagt sie.

Das zeige sich auch an den Zahlen: 2024 seien rund 7.000 Anfragen zu Schicksalen im Zweiten Weltkrieg eingegangen. Der Großteil werde nach wie vor von der "Erlebnisgeneration" gestellt, also Menschen, die damals dabei waren oder zumindest direkte Angehörige verloren haben. Aber auch in der Enkelgeneration bestehe zunehmendes Interesse, die eigenen Eltern und Großeltern bei der Schicksalsklärung zu unterstützen. In gut 43 Prozent der Fälle könne das DRK mit seinem großen Bestand an Unterlagen weiterhelfen. 

Auch eine Todesnachricht kann tröstlich sein

Das Schicksal der eigenen Familie zu kennen, selbst wenn es die Gewissheit über den Tod eines Angehörigen ist: Für viele, die jahrzehntelang suchen, kann das eine Erleichterung sein. Barbara Rostam aus Reutlingen ging es so. Sie suchte Informationen über den Verbleib ihres verschollenen Vaters. Der war aus der Sowjetunion nicht zurückgekehrt. 

Die Mutter habe aus der brandenburgischen Heimat nach Süddeutschland ziehen müssen, um die Familie ohne Mann durchzubringen. Die damals zweijährige Tochter blieb bei der Großmutter - eine schwer traumatisierte Frau, die im ersten Weltkrieg erst den Mann und dann im zweiten beide Söhne verloren habe. 

Schon Mitte der 1970er-Jahre bekommt Rostam dank des DRK-Suchdienstes Klarheit: Der Vater ist in sowjetischer Gefangenschaft gestorben. Eine traurige, aber auch erlösende Nachricht - zumindest für sie. "Meine Mutter hat das schon sehr mitgenommen, dass das jetzt so endgültig war. Irgendwie hat sie immer noch gehofft, dass er wiederkommt."

Wie lange gibt es den Suchdienst noch?

Für Suchende ist der Dienst des Roten Kreuzes kostenlos. Finanziert wird die Arbeit seit 1953 vom Bundesinnenministerium. Nach vielen Diskussionen, ob der Dienst so viele Jahre nach Kriegsende noch nötig sei, wurden die Mittel nochmals bis 2028 verlängert. Zur Freude des DRK - auch wenn das sich wünschen würde, dass der Dienst mindestens bis zum 100. Jahrestag des Kriegsendes 2045 weiterläuft. "Wir stehen nach wie vor jederzeit bereit, die Schicksale von Angehörigen aufzuklären", sagt DRK-Präsidentin Hasselfeldt.

Elke Simon hatte nach Jahrzehnten der Trennung viele schöne Erlebnisse mit ihren Geschwistern. Die Halbschwester sei zwar mittlerweile gestorben, zuvor sei man aber noch einmal zusammen im Urlaub gewesen. Den Bruder sieht sie regelmäßig. Auch über ihre Mutter habe sie noch ein wenig herausfinden können, etwa, dass sie Bäckereifachverkäuferin gewesen ist.

Nur manchmal denke sie: "Hätte ich doch einmal früher gesucht, was hätte dann sein können?“ Meistens überwiege aber die Freude. Und die Dankbarkeit gegenüber dem Suchdienst. "Ich finde sehr schön, dass es das Angebot nach so vielen Jahren immer noch gibt", sagt sie.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 08. Mai 2025 um 12:00 Uhr.