Eine Person geht zum Tor des ehemaligen deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau mit dem Schriftzug "Arbeit macht frei".
interview

Als Jugendlicher im KZ "Auschwitz geht aus mir nicht raus"

Stand: 27.01.2025 10:15 Uhr

Michael Goldman-Gilad hat das KZ Auschwitz überlebt und den Todesmarsch. Später gehörte er als Polizist zum Ermittlerteam im Eichmann-Prozess. Im Interview erzählt er, wie er Auschwitz überlebte und was dies für sein Leben bedeutete.

ARD: Herr Goldman-Gilad, in diesem Jahr werden Sie 100 Jahre alt. Ende 1943, als Sie in das Vernichtungslager Auschwitz gekommen sind, waren Sie 17. Erinnern Sie sich noch, wie es bei der Ankunft war?

Michael Goldman-Gilad: Wir kamen mit der Bahn und es gab eine Selektion. Da waren zwei SS-Männer. Wir standen vor ihnen und mussten sagen, wie alt wir sind und ob wir einen Beruf haben. Da war einer von den Häftlingen, der kam zu uns und sagte auf Jiddisch: "Sagt, dass Ihr einen Beruf habt und dass Ihr mindestens 10 Jahre alt seid." Und ich habe beschlossen, dass ich Schlosser bin - ich war kein Schlosser.

Ich kann mich an einen erinnern, der vor mir stand, ein Junge, der war zwei Jahre jünger als ich. Und ich habe ihm gesagt: "Sag auch, dass Du älter bist und dass Du einen Beruf hast." Er sagte: "Wie kann ich lügen?" Das war seine Antwort. Ich habe ihn nie wieder gesehen.

Michael Goldman-Gilad
Zur Person
Michael Goldman-Gilad wurde 1925 in Kattowitz (Polen) geboren. 1943 wurde er in das KZ Szebnie und von dort in das Vernichtungslager Auschwitz gebracht. 1945 gelang ihm während der "Todesmärsche" die Flucht. 1949 ging er nach Israel und wurde dort Polizeioffizier. Er gehörte zum Ermittlerteam der Staatsanwaltschaft im Prozess gegen Adolf Eichmann, einen der Organisatoren des Holocaust.

"Wir wussten es schon in der ersten Woche"

ARD: Sie waren dann mehr als zwei Jahre im Arbeitseinsatz und waren in verschiedenen Betrieben rund um das Lager Zwangsarbeiter. Ab wann wussten Sie, dass Auschwitz ein Vernichtungslager war?

Goldman-Gilad: Das wussten wir schon in der ersten Woche. Denn an einem Tag hat man eine Gruppe von Jungen herausgeholt, ich war dabei, und man hat uns auf die andere Seite des Lagers geführt. Ich sah einen hohen Schornstein, da kam Feuer raus. Ich wusste nicht, was das ist. Und dann habe ich einen Haufen gesehen, einen Berg aus Asche.

Es war im November, es gab schon manchmal Schnee. Man hat mir eine Schaufel gegeben und eine Schubkarre. Und wir mussten die Asche rund um ein Gebäude verstreuen, damit die SS-Männer nicht ausrutschen. Und ich habe verstanden, dass das die Asche von Menschen ist.

Wir wussten, dass in Auschwitz Menschen verbrannt wurden. Da war ein Kapo (Anm. d. Redaktion.: Der Begriff bezeichnet einen KZ-Häftling, der für die Lagerleitung andere Menschen im KZ beaufsichtigen musste.), der hat auf den Schornstein gezeigt und gesagt: "Siehst Du diesen Kamin? In zwei Wochen gehst Du durch den in den Himmel."

Flucht im Januar 1945

ARD: Sie waren am Tag der Befreiung des Lagers Auschwitz, am 27. Januar 1945 schon nicht mehr dort. Wie sind sie dort weggekommen?

Goldman-Gilad: Wir haben die Kanonen gehört. Auschwitz ist nicht weit weg von Krakau. Die Deutschen standen an der Weichsel, und die Russen haben die Deutschen angegriffen. Es war schon Januar, und wir haben verstanden, dass die Front immer näherkommt.

Eines Tages sind wir nicht zur Arbeit gegangen und man hat uns aus dem Lager geführt. Immer 1.000 in jeder Gruppe. Und wir haben angefangen zu gehen - das war der Todesmarsch. Man hat uns ein Viertel Brot gegeben und ein kleines Stück Seife. Wir haben gesagt, diese Seife ist von Toten. Ich habe das Stück bis heute.

"So sind wir am Leben geblieben"

ARD: Viele sind auf den Todesmärschen gestorben, wie haben Sie überlebt?

Goldman-Gilad: Wir sind in ein Dorf gekommen, das war noch in Oberschlesien, ein polnisches Dorf. Ich habe eine Gruppe Frauen gesehen, die am Weg standen. Und einige von denen haben geweint. Ich habe mir gesagt: Hier fliehe ich. Es gab Schnee bis zu den Knien, rechts und links waren Gräben. Wir waren drei Jungs, einer aus Breslau, einer aus Berlin und ich, wir sind immer zusammen gegangen. Ich sprang in den Graben, habe mich versteckt und getan, als ob ich tot wäre. So haben wir drei das gemacht.

Und als meine Gruppe vorbei war, sind wir aufgestanden. Das erste Haus war ein Stall. Da haben wir uns versteckt. An einem Abend haben wir eine laute Stimme gehört: "Wo sind hier die Juden?" Und eine Frau hat gesagt: "Die waren hier, haben Wasser am Brunnen getrunken und sind zum Wald gelaufen." Sie hat ihr eigenes Leben riskiert.

Die Menschen auf dem Hof haben uns Brot und Milch gebracht. Und auf einmal, nach über einer Woche im Versteck, haben wir Russisch gehört von Soldaten. Ich bin rausgesprungen und der Russe schrie: "Ich könnte Dich erschießen!" Und ich habe ihn geküsst, diesen Russen. So sind wir am Leben geblieben.

"Ich sah einen schwachen Mann vor mir"

ARD: Sie sind dann auf ziemlich komplizierten Wegen nach Israel gekommen, haben mitgeholfen, den jungen Staat aufzubauen und sind Polizist geworden. Ab 1960 waren sie dann im Ermittlungsteam der Staatsanwaltschaft im Jerusalemer Prozess gegen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, einen der Organisatoren des Holocaust - wie kam das?

Goldman-Gilad: Ich habe mich freiwillig gemeldet, denn ich spreche Polnisch, Russisch, Deutsch. Wir haben nicht nur Eichmann, sondern auch viele Zeugen befragt, die wie ich den Holocaust überlebt haben. Wir wollten beweisen, was Eichmann getan hatte.

ARD: Wie war das für Sie, als Holocaust-Überlebender, diesen Täter zu verhören?

Goldman-Gilad: Ich habe vor mir einen "Nebbich" gesehen, einen schwachen Mann. Ich konnte das nicht verstehen und habe mich gefragt: Wie kann das sein, dass so einer Hunderttausende Juden ins Feuer geschickt hat?

Im Verhör war er sehr gelassen. Er hat immer gesagt, er habe nur Befehle ausgeführt. Er hat alles geleugnet. Das war seine Linie.

Ich war natürlich nicht neutral, aber ich habe meine Aufgabe erledigt. Als ich ihn das erste Mal gesehen habe, habe ich mir gesagt: Das ist der, der meine Eltern verbrannt hat? Und meine kleine zehnjährige Schwester? Das habe ich gefühlt - aber ich konnte das nicht sagen. 

NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann während seiner Vernehmung am ersten Prozesstag vor dem Bezirksgericht in Jerusalem (Archivbild: 11.04.1961).

Adolf Eichmann organisierte im Dritten Reich die Verfolgung, Vertreibung und Deportation der Juden und war an führender Stelle mitverantwortlich für den Holocaust. 1960 wurde er von israelischen Agenten in Argentinien aufgespürt, nach Israel entführt und dort nach einem aufsehenerregenden Prozess 1962 hingerichtet.

"Mensch zu sein heißt: Wir sind nicht wie die Nazis"

ARD: Dann, 1962, waren Sie dabei, als Eichmann hingerichtet wurde. Bis heute ist das das einzige Todesurteil, das Israel vollstreckt hat. Haben Sie da Genugtuung gespürt?

Goldman-Gilad: Ich habe mich dafür nicht gemeldet. Zu sehen, wie er hingerichtet wird, war nicht meine Angelegenheit. Meine Aufgabe war, zu beweisen, dass er schuldig ist.

Ich war einer der Zeugen bei der Hinrichtung, das wurde mir befohlen. Es hat mich nicht berührt. Ich habe mich selbst gewundert, dass ich keine Freude verspürt habe. Ich sah, wie einer, der Hunderttausende Juden zum Tod gebracht hat, seine Strafe bekommt.

ARD: Was bedeutet Ihnen dieser Tag, der 80. Jahrestag von Auschwitz?

Goldman-Gilad: Mensch zu sein heißt: Wir sind nicht wie die Nazis. Das habe ich versucht, zu leben. Aber es stimmt auch: Auschwitz geht aus mir nicht raus. Das lässt mich nicht in Ruhe - und damit lebe ich.

Das Gespräch führte Jan-Christoph Kitzler, ARD Tel Aviv

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema wird ARD alpha in "Zeuge der Zeit" am 02. Februar 2025 um 20:15 Uhr berichten.