
EU-Gipfel in Brüssel Ein leiser Abschied und viele drängende Fragen
Verteidigung, Wirtschaftswachstum, Ukraine-Hilfe - der EU-Gipfel berät über drängende, aber ungelöste Fragen. Der enorme Finanzbedarf befeuert die Debatte und das Umdenken über ein umstrittenes Instrument.
Angela Merkel bekam vor dreieinhalb Jahren zum Abschied aus Brüssel stehenden Applaus ihrer 26 Kolleginnen und Kollegen, ein herziges Video und eine abstrakte Skulptur. Für ihren Nachfolger ist keine größere Zeremonie geplant: Olaf Scholz nimmt wohl zum letzten Mal an einem EU-Gipfel teil. Ratschef Antonio Costa hat ihn schon vergangene Woche bei einem Besuch in Berlin als "treibende Kraft der Einigkeit angesichts beispielloser Herausforderungen" gewürdigt.
Mit vielen davon muss sich der scheidende Kanzler auch bei seinem voraussichtlich letzten Europäischen Rat auseinandersetzen: Der Gipfel berät darüber, die Wirtschaft zu stärken, die EU-Mitgliedsstaaten aufzurüsten und Hilfe für die Ukraine auch dann sicherzustellen, wenn die USA sich zurückziehen.
Was Solidarität kostet
Das Treffen bietet den EU-Staats- und Regierungschefs und -chefinnen die Gelegenheit, das Telefonat von US-Präsident Donald Trump mit Kremlchef Wladimir Putin gemeinsam zu bewerten. Laut einem Entwurf der Abschlusserklärung begrüßen die 27 das Gespräch. Sie bekräftigen aber auch, dass ein Friedensabkommen die Grenzen der Ukraine achten und dem Land Sicherheitsgarantien bieten müsse, damit Russland nicht wieder angreift.
Kiew wird weiter berechenbare Unterstützung zugesagt. Allerdings ist Europa in dieser Frage geteilt: Nord- und osteuropäische sowie die baltischen Staaten, die geografisch näher an Russland liegen, wollen mehr leisten als weiter entfernte im Süden und Westen. Deutschland steuert im laufenden Jahr insgesamt sieben Milliarden Euro bei.
Andere große Mitgliedsstaaten halten sich zurück. Frankreich, Italien und Spanien sind hochverschuldet und leisten in Bezug auf ihre Wirtschaftsleistung weniger als andere europäische Länder. In der Abschlusserklärung werden die Mitgliedsstaaten nochmals aufgefordert, ihre Anstrengungen zugunsten der Ukraine "dringend" zu verstärken.
Deutschland marschiert vorne
Seitdem Trump die Militärhilfe für Kiew vorübergehend einstellen ließ, versucht die EU noch nachdrücklicher, sich in der Verteidigung eigenständiger aufzustellen. Viele EU-Partner haben begrüßt, dass Deutschland als wirtschaftsstärkster Mitgliedsstaat dabei vorangeht: Nachdem der Bundestag zugestimmt hat, die Schuldenbremse zu lockern, sind zusätzliche Ausgaben für die Aufrüstung möglich (wenn am Freitag auch der Bundesrat mitzieht).
Andere EU-Schwergewichte wie Italien und Spanien sind allerdings weit vom (inzwischen schon wieder überholten) NATO-Ziel entfernt, mindestens zwei Prozent ihres Brutto-Inlandsproduktes für Verteidigung auszugeben. Die EU-Kommission will ihnen helfen, indem sie Anleihen ausgibt und den Regierungen Darlehen im Umfang von bis zu 150 Milliarden Euro zu günstigen Bedingungen bereitstellt.
Außerdem sollen EU-Länder befristet höhere Schulden für Verteidigungsausgaben machen können. Sie sollen stärker auf die Europäische Investitionsbank zurückgreifen und Mittel aus bestehenden EU-Fördertöpfen für Verteidigungszwecke umwidmen können. Nach Angaben von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen könnte Europa dadurch insgesamt bis zu 800 Milliarden Euro mobilisieren.
Doch gemeinsame Schulden?
Ob gerade hochverschuldete Mitgliedsstaaten diese Instrumente nutzen und ihre Schuldenlast weiter erhöhen, ist offen. Deshalb nimmt zum Gipfel die Debatte über ein anderes und hochumstrittenes Finanzierungsinstrument wieder Fahrt auf - gemeinsame Schulden, wie sie die EU bisher einmal zur Abmilderung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie gemacht hat.
Einige EU-Regierungen fordern sie, der amtierende Bundeskanzler Scholz lehnt sie ab und auch die christdemokratische EVP, die zwölf EU-Regierungschefs stellt, war bisher skeptisch. Jetzt sagt EVP-Partei- und Fraktionschef Manfred Weber: "Die europäische Verteidigung ist von hoher Dringlichkeit. Wir müssen jetzt den Schritt vorangehen und zur Finanzierung liegen derzeit alle Optionen auf dem Tisch und auch in der EVP haben wir dabei eine lebendige Diskussion."
Friedrich Merz ist zwar noch nicht Bundeskanzler, aber ebenfalls in Brüssel - er nimmt am morgendlichen Treffen der EVP-Staats- und Regierungschefs vor dem EU-Gipfel teil.
Verteidigungsbereit bis 2030
Die EU-Kommission stellt nicht nur Instrumente bereit, um die geplante Aufrüstung zu finanzieren. Sie macht auch Vorschläge, wie die derart aufgebrachten Summen effektiver als bisher eingesetzt werden können, über die der Gipfel ebenfalls berät. Kommissionschefin von der Leyen gibt als Ziel aus, Europa bis 2030 verteidigungsbereit zu machen - durch Aufrüstung und den Ausbau der heimischen Industrie. Dafür sollen Mitgliedsstaaten ihre Nachfrage bündeln und Rüstungsgüter möglichst gemeinsam beschaffen.
Mit EU-Darlehen unterstützte Vorhaben sollen vor allem Unternehmen in Europa zugute kommen. Die EU will grundsätzlich ihre Sicherheit mit der Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Wirtschaft verbinden, und tut das auch bei diesem Gipfel, indem die 27 außerdem über Vorschläge beraten, Europas Kapitalmärkte zu integrieren. Dahinter steht der Gedanke, dass öffentliches Geld bei weitem nicht ausreicht, um die geplante Aufrüstung und Europas nachhaltigen Wandel zu finanzieren.
Erspartes in Europa halten
Dafür braucht die Gemeinschaft außerdem privates Kapital, das eigentlich in der EU reichlich vorhanden ist. Allerdings fließen jährlich 300 Milliarden an privaten Ersparnissen ins Ausland - vor allem in die USA, weil die Finanzmärkte in Europa zersplittert sind. Brüssel will das ändern und sie für private Investoren attraktiver machen.
Darüber diskutiert die EU seit zehn Jahren; vor einem Jahr hat sich ein gesamter Gipfel mit der angestrebten Kapitalmarktunion befasst. Jetzt fordert der Europäische Rat ausweislich des Entwurfs der Abschlusserklärung, endlich Tempo zu machen.
Das ist insofern bemerkenswert, als Fortschritte bisher nicht zuletzt daran scheiterten, dass Mitgliedsstaaten ihr jeweiliges Steuer-, Insolvenz- oder Bankenrecht nicht entsprechend ändern oder eine gestärkte zentrale Aufsicht anerkennen wollten. Die Marktüberwachung wird bei diesem Gipfel wieder Thema sein.