Russischer Angriffskrieg Warum viele Ukrainer die Militärführung kritisieren
Viele sind erschöpft und zermürbt, neue Rekruten unerfahren und verängstigt: In der Ukraine häufen sich Berichte über Soldaten, die ihre Einheiten verlassen. Die Militärführung steht zunehmend in der Kritik.
Mindestens 60.000 Militärangehörige sind seit Beginn der russischen Invasion unerlaubt abwesend gemeldet worden. Sie klagen beispielsweise über Probleme mit Vorgesetzten oder sind erschöpft und kehren in vielen Fällen in diesem Zustand in den Dienst zurück.
Etwa 30.000 gelten als fahnenflüchtig. Sie verstecken sich also entweder im Land oder haben die Ukraine illegal verlassen. Im vergangenen Jahr sind die Zahlen stark angestiegen, wie Daten der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft zeigen. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Strukturelle Probleme, massive Erschöpfung
Zum einen ist die ukrainische Armee heute um einiges größer als noch zu Beginn des russischen Angriffskriegs. Fahnenflucht ist zudem in vielen Armeen ein bekanntes Phänomen, zumal nach Jahren intensiver Gefechte. Darüber hinaus berichten ukrainische Soldatinnen und Soldaten immer wieder, dass sie als unerlaubt abwesend gelten, obwohl sie nur zu spät bei ihren Einheiten eingetroffen seien.
Doch Gefechtsintensität und Bürokratiechaos sind keine Erklärungen für den deutlichen Anstieg der Zahlen im vergangenen Jahr. Vielmehr treffen strukturelle Probleme der Armee auf massive Erschöpfung und Perspektivlosigkeit unter Militärangehörigen.
Scharfe Kritik an Militärführung
Mit seinen Recherchen über Fahnenflüchtige hat der Journalist Jurij Butussow eine große Debatte ausgelöst. Er kritisiert die ukrainische Führung scharf: "Das ist ein Problem des Systems. Das ist ein Problem inadäquater, nicht kompetenter militärischer Planung. Und das ist ein großes Problem für die Ukraine."
Unerfahrene Kommandeure treffen nach fast drei Jahren Angriffskrieg auf unerfahrene Soldaten. Manche von ihnen sind gegen ihren Willen in die Armee eingezogen worden.
Seit Monaten tauchen im Internet immer wieder Videos auf, die das brutale Vorgehen einiger Einberufungsbehörden zeigen. Wehrfähige Männer werden auf offener Straße mit Gewalt in Busse gesteckt.
Fälle von Korruption und Machtmissbrauch
Die Grundausbildung gilt in vielen Fällen als zu schlecht, kritisiert auch der ukrainische Abgeordnete Roman Kostenko. Unvorbereitet und verängstigt kommen diese Rekruten an der Front an und suchen einen Ausweg.
Aber es sind nicht nur die Neuen, die fliehen. Korruption und Machtmissbrauch in den Streitkräften macht selbst Berufssoldaten wie Mischa mürbe. Fünf Jahre hatte der 26-Jährige aus dem Osten der Ukraine gedient. "Ich würde immer noch kämpfen, wenn wir normale Kommandeure und eine gute Regierung haben", sagt Mischa im Gespräch mit der ARD.
Flucht nach Italien
Er hat nicht nur der Armee den Rücken gekehrt, sondern direkt der gesamten Ukraine. Mit drei weiteren Kameraden floh er über die westukrainischen Karpaten nach Rumänien. Heute lebt er in Italien.
Der Kommandeur seiner Einheit habe nach einer Weile angefangen, sich zu bereichern, sagt Mischa. Er habe regelmäßige Zahlungen von seinen Untergebenen gefordert - getarnt als Spenden für Ausrüstung, Drohnen oder Generatoren.
"Für meinen ersten Urlaub musste ich ihm eine schusssichere Weste kaufen", berichtet Mischa, dessen Nachnamen wir aus Sicherheitsgründen nicht nennen dürfen. Danach habe er eine Starlink-Ausrüstung gefordert, die mehrere Hundert Euro kostet, für schnelles Internet an der Front.
Der Kommandeur habe Mischa als seinen Sklaven bezeichnet. Habe Soldaten auch als Strafe an vorderste Front geschickt oder aus Sicht seiner Untergebenen sinnlose und teilweise tödliche Entscheidungen getroffen. Es sind schwere Vorwürfe, die sich nicht alle unabhängig überprüfen lassen.
"Die Menschen sind bereit, das Land zu verteidigen"
Doch ähnliche Berichte gibt es auch aus anderen Einheiten. Die Heimatstadt von Danylo, einem anderen Soldaten, wurde 2022 von Russland besetzt. Er flüchtete mit seiner Familie und wurde später in die ukrainische Armee eingezogen.
Nach Monaten in Schützengräben und praktisch ohne Urlaub kehrt er nach seinem Urlaub zunächst nicht an die Front zurück. Auch er wirft seinem Kommandeur Machtmissbrauch vor. Er soll gegenüber Danylo und seinen Kameraden Gewalt ausgeübt haben.
"Es ist sehr schwierig, in den Schützengräben zu sitzen, wenn auf der einen Seite ständig Feinde sind, die auf dich schießen - und auf der anderen Seite hast du Leute hinter dir, denen du überhaupt nicht vertrauen kannst", sagt Danylo. Nun will er für eine andere Einheit kämpfen.
Forderung nach Reformen und stärkerem Druck des Westens
Der Journalist Butussow fordert grundlegende Reformen und mehr Druck durch den Westen. "Die Menschen sind bereit, das Land zu verteidigen", sagt er:
Sie sind bereit, Risiken einzugehen, wenn sie sich im Team unterstützt fühlen, wenn sie sich ausruhen können, wenn sie wieder zu Kräften kommen können, wenn sie Kommandeure haben, denen sie vertrauen, und wenn es Kameraden gibt, an die sie glauben und die für sie wirklich eine kämpfende Familie sind.
Minister räumt Fehler ein
Der ukrainische Außenminister räumt Fehler ein. "Ich bin davon überzeugt, dass alle notwendigen Schlüsse gezogen wurden, und es gab entsprechende Stellungnahmen der Militärführung dazu", sagt Andrij Sybiha im ARD-Interview. "Wir sind unseren Partnern manchmal auch dankbar für entsprechende Ratschläge. Denn das ist unsere gemeinsame Sache."
Kritiker fordern, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj bestehende Brigaden verstärkt, dafür sorgt, dass neue Rekruten besser ausgebildet werden und dass er konsequent gegen Machtmissbrauch in der Armee vorgeht.