
Nach Festnahme Imamoğlus Proteste und eine Beschlagnahmung
Die Festnahme des wichtigsten Erdoğan-Herausforderers Imamoğlu sorgt international für Besorgnis. In der Türkei protestierten Tausende Menschen - offline wie online. Unterdessen beschlagnahmte die türkische Justiz Imamoğlus Baufirma.
Nach der Festnahme des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem Imamoğlu hat die Türkei auch dessen Bauunternehmen beschlagnahmt. Dies teilte die Generalstaatsanwaltschaft von Istanbul in einer Stellungnahme mit. Die Kontrolle über Imamoğlu Construction sei basierend auf Untersuchungsberichten zu Finanzkriminalität von einem Strafgericht übernommen worden, erklärte das Gericht.
Türkische Behörden hatten gestern den wichtigsten politischen Rivalen von Präsident Recep Tayyip Erdoğan verhaftet. Imamoğlu wird unter anderem Korruption und Unterstützung einer Terrorgruppe vorgeworfen. Kritiker bezeichnen die Festnahme hingegen als politisch motiviert.
CHP: "Putschversuch gegen unseren nächsten Präsidenten"
Die größte Oppositionspartei CHP sprach von einem "Putschversuch gegen unseren nächsten Präsidenten". EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete die Festnahme als "äußerst besorgniserregend". Sie mahnte, dass die Türkei als Mitglied des Europarats und EU-Beitrittskandidat demokratische Werte und insbesondere die Rechte gewählter Amtsträger achten müsse. Auch die deutsche Bundesregierung kritisierte die Festnahme und sprach von einem "schweren Rückschlag für die Demokratie in dem Land am Bosporus". Auch in Berlin wurde gegen seine Verhaftung demonstriert.
Bundeskanzler Olaf Scholz bezeichnete die Festnahme Imamoğlus als "sehr, sehr schlechtes Zeichen". Die Verhaftung eines so zentralen Oppositionspolitikers sei "bedrückend für die Demokratie in der Türkei, aber ganz bestimmt auch bedrückend für das Verhältnis zwischen Europa und der Türkei", sagte der SPD-Politiker am Rande eines EU-Gipfeltreffens in Brüssel.
Imamoğlu gilt als potenziell aussichtsreichster Herausforderer Erdoğans bei der für 2028 angesetzten Präsidentenwahl. Mit dem Vorgehen gegen den 54-Jährigen erreicht die seit Monaten andauernde Verfolgung von Oppositionellen einen neuen Höhepunkt. Die Regierung wies einen politischen Bezug zurück.

In Istanbul demonstrierten zahlreiche Menschen vor der Stadtverwaltung gegen die Festnahme des Bürgermeisters.
Proteste in der Türkei
In der Türkei gab es am Abend Proteste gegen die Festnahme. Trotz eines Verbots kamen in Istanbul Tausende Menschen unter hohem Polizeiaufgebot vor der Stadtverwaltung zusammen, wie die Nachrichtenagentur dpa berichtete. Die Menge forderte Erdoğan zum Rücktritt auf und warf ihm vor, durch die Festnahme seinen größten Rivalen ausschalten zu wollen. Am Rande der Proteste kam es laut Medien zu Ausschreitungen und Festnahmen.
Auch in Ankara wurde dem Sender Halk Tv zufolge protestiert. An der dortigen ODTÜ-Universität kam es demnach zu Zusammenstößen zwischen Studierenden und der Polizei. Dabei sollen auch Demonstrierende in Gewahrsam genommen worden sein.
Ermittlungen zu Hunderten Social-Media-Beiträgen
Bereits gestern waren etliche soziale Netzwerke sowie Kurznachrichtendienste in der Türkei nur eingeschränkt nutzbar. Auch heute halten viele der Bandbreitendrosselung an, wie der Cyberrechts-Aktivist Yaman Akdeniz auf der Plattform X schrieb.
Online geäußerter Protest und Kritik am Vorgehen der Behörden wird verfolgt. Bis zum Morgen wurden Behördenangaben zufolge allein auf der Plattform X mehr als 18 Millionen Beiträge zu dem Thema gepostet. Gegen mehrere Social-Media-Nutzer werde nun ermittelt. 37 Personen seien bereits "gefasst" worden, schrieb der türkische Innenminister Ali Yerlikaya auf der Plattform X.
Insgesamt seien 261 Account-Inhaber wegen "provokativer Beiträge" ermittelt worden, 62 davon im Ausland. Gegen die verbliebenen werde noch vorgegangen. Den Nutzern werde etwa "Aufstachelung der Öffentlichkeit zu Hass und Feindseligkeit" und "Anstiftung zur Begehung einer Straftat" vorgeworfen.
Universitätsabschluss aberkannt
Der türkische Justizminister Yilmaz Tunc hatte vor Protesten gewarnt und es "anmaßend" genannt, die von der Justiz eingeleiteten Ermittlungen mit Erdoğan in Verbindung zu bringen. Es werde wegen Vorwürfen der Korruption und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gegen Imamoğlu ermittelt. Er und sechs weitere Personen sollen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) unterstützt haben.
In den Anadolu-Berichten heißt es, Hintergrund der Terror-Ermittlungen sei eine Kooperation zwischen der CHP und der prokurdischen Dem-Partei bei den Kommunalwahlen. Die Parteien hatten zusammengearbeitet, um in Gemeinden Mehrheiten zu gewinnen.
Die Festnahme erfolgte einen Tag, nachdem die Universität Istanbul dem Bürgermeister Imamoğlus Abschluss aberkannt hatte. Sollte dies Bestand haben, wäre er von einer Präsidentschaftskandidatur ausgeschlossen.
"Eine Art des zivilen Coups"
Am kommenden Sonntag hätte die CHP ihren Spitzenkandidaten küren sollen. Die auf türkische Politik spezialisierte Expertin Hürcan Aslı Aksoy sagte der tagesschau, die Regierung habe mit der Festnahme verhindern wollen, dass Imamoğlu gewählt werde. Es sei das erste Mal in der Geschichte, dass die türkische Regierung sogar parteiinterne Wahlen verhindere. "Es ist ein Schritt zum vollen Autoritarismus. Es ist eine Art des zivilen Coups." Die Regierung in Ankara wisse ganz genau, dass derzeit weder von der EU noch von den USA ernstzunehmende Reaktionen auf das innenpolitische Vorgehen zu befürchten seien.
Erdoğan äußerte sich bisher nicht zu dem Fall - auch nicht am Abend in einer Rede. Mit Imamoğlu wurden laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu mindestens 87 weitere Personen festgenommen, gegen 106 werde insgesamt ermittelt. Imamoğlu wurde nach seiner Festnahme in die Polizeidirektion in Istanbul gebracht und soll dort eine Aussage machen. Laut der türkischen Anwaltsvereinigung könnte die Aufnahme aller Aussagen bis Sonntag dauern.
Aktuellen Umfragen zufolge hätte Imamoğlu gute Chancen auf einen Sieg bei der kommenden Präsidentschaftswahl. Erdoğan führt die Türkei seit mehr als 20 Jahren als Regierungschef oder Präsident und war einst selbst Oberbürgermeister von Istanbul. Er darf laut geltender Verfassung beim regulären Wahltermin 2028 kein weiteres Mal als Präsidentschaftskandidat antreten - es sei denn, das Parlament stimmt für vorgezogene Neuwahlen. Dafür brauchen seine Partei und ihre Verbündeten im Parlament Stimmen der Opposition.
Mehrere Ermittlungen gegen Erdoğan-Gegner
Es sind nicht die ersten Terror-Ermittlungen gegen politische Amtsträger und Erdoğan-Gegner in der Türkei. Vor allem Bürgermeister der prokurdischen Dem-Partei wurden zuletzt wegen solcher Ermittlungen ihres Amtes enthoben und durch regierungsnahe Zwangsverwalter ersetzt. Ob es auch im Falle Imamoğlus so kommen könnte, ist unklar. Neben ihm wurden unter anderem Bürgermeister von zwei Istanbuler Gemeinden und ein bekannter Sänger festgenommen.
Die geplante Kür Imamoğlus zum Präsidentschaftskandidaten der CHP so lange vor der Wahl könnte darauf zurückzuführen sein, dass ihn seine Partei vor politischen Repressionen schützen wollte. Ihm drohen in einer Reihe weiterer Verfahren Haftstrafen und Politikverbote, wobei Imamoğlu jegliche Schuld bestreitet. Seit Monaten mehren sich juristische Verfahren gegen Mitglieder der Opposition und der Zivilgesellschaft.
Imamoğlus Sieg bei der Bürgermeisterwahl 2019 in Istanbul, der bevölkerungsreichsten Stadt und Provinz, gilt als bis dahin größte Niederlage der Partei Erdoğans. Seine islamisch-konservative AKP hatte die Metropole bis dahin regiert. Bei den Kommunalwahlen 2024 gewann Imamoğlu in Istanbul dann ein weiteres Mal.