Menschen halten bei einem Protest in Istanbul gegen die Festnahme von Ekrem Imamoğlu ein Plakat mit seinem Bild.

Imamoğlus Festnahme "Müssen uns als Nation gegen dieses Übel stellen"

Stand: 20.03.2025 16:35 Uhr

In einem eindringlichen Appell hat der festgenommene Oberbürgermeister Istanbuls, Imamoğlu, die Justiz aufgerufen, "moralisch zu handeln". Präsident Erdoğans Partei streitet derweil jede Verwicklung ab. Landesweit gehen die Proteste weiter.

Nach seiner Festnahme hat sich Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu mit einem öffentlichen Appell an die türkischen Staatsanwälte und Richter gewandt. In einem Post auf der Plattform X schrieb der CHP-Politiker, er appelliere an alle moralischen Mitglieder der Judikative. Die "Zehntausenden ehrenwerten Juristen" sollten sich gegen die "Handvoll" ihrer Kolleginnen und Kollegen stellen, die den Ruf der Türkei beschmutzten. Er vertraue der türkischen Justiz. "Sie können und dürfen nicht schweigen."

Katharina Willinger, ARD Istanbul, zu den Protesten gegen Erdogan

tagesschau24, 20.03.2025 18:00 Uhr

Auch für die Mitglieder von Präsident Recep Tayyip Erdoğans Partei, der AKP, hatte der Oberbürgermeister eine Botschaft: "Es ist an der Zeit, dass Sie Ihre Stimmen erheben." Selbst wenn die AKP-Politiker nicht selbst betroffen seien, sollten sie zum Wohle des Landes ihre Stimme erheben.

Imamoğlu warnte zugleich die Menschen in der Türkei. "Der Kopf, der mein Diplom beschlagnahmt hat, wird sich auch an eurem Besitz, eurer Ehre und eurem Eigentum vergreifen und jegliche Art von Enteignung und Übergriffen vornehmen." Vor Imamoğlus Festnahme war ihm bereits sein Universitätsabschluss aberkannt worden. Ohne ihn ist eine Präsidentschaftskandidatur in der Türkei ausgeschlossen. Der CHP-Politiker forderte: "Als Nation müssen wir uns gegen dieses Übel stellen."

Festnahme vor Wahl zum Spitzenkandidaten

Seit gestern befindet sich der als Hoffnungsträger der Opposition gehandelte Politiker in Polizeigewahrsam. Er stehe unter Terror- und Korruptionsverdacht, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Sein Bauunternehmen wurde beschlagnahmt. Auch gegen 106 weitere Personen aus Imamoğlus Umfeld wird ermittelt, mindestens 87 Personen wurden festgenommen. Darunter sind auch zwei Istanbuler Gemeindebürgermeister.

Der Parteichef der CHP, Özgür Özel, bezeichnete die Festnahme Imamoğlus als "Putschversuch". Das Volk solle daran gehindert werden, den nächsten Präsidenten selbst zu bestimmen. Der Istanbuler Oberbürgermeister ist äußerst beliebt - nicht nur bei Anhängern der kemalistischen CHP. Auch aus der eher religiös-konservativen Wählerschaft der AKP bekommt der Sozialdemokrat Zuspruch. Am Sonntag sollte er eigentlich zum Spitzenkandidaten der CHP für die nächste Präsidentschaftswahl 2028 ernannt werden. Umfragen zufolge hätte er gute Chancen auf einen Erfolg.

AKP nennt Vorwürfe "Gipfel politischer Unvernunft"

Die AKP wehrt sich gegen den Vorwurf, die Verhaftungen angestoßen zu haben. Parteisprecher Ömer Çelik bezeichnete jede Andeutung in diese Richtung als "Gipfel politischer Unvernunft". Die türkische Justiz agiere unabhängig, sagte auch der türkische Justizminister Yılmaz Tunç von der AKP.

Neben Korruption bei Ausschreibungen der Istanbuler Stadtverwaltung wird Imamoğlu vorgeworfen, die verbotene und als terroristische Vereinigung eingestufte Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) unterstützt zu haben. Dabei geht es offenbar um einen Aufruf der CHP und der pro-kurdischen Partei DEM bei den Kommunalwahlen zusammenzuarbeiten, um sich gemeinsam gegen Erdoğans AKP durchsetzen zu können. Die türkische Regierung sieht die DEM als politischen Arm der PKK. Die Partei streitet das vehement ab.

Tausende protestieren gegen Vorgehen der Justiz

In Istanbul wurden zentrale Straßen, Metrostationen und der Taksim-Platz abgesperrt. Es besteht ein Versammlungs- und Demonstrationsverbot bis einschließlich Sonntag. Das hielt viele Menschen in der größten türkischen Stadt nicht davon ab, ihren Protest kundzutun. Studierende verschiedener Universitäten forderten den Rücktritt des Staatschefs. Die CHP rief erneut zu abendlichem Protest auf.

Bereits gestern waren in Istanbul, Ankara und anderen Städten Tausende Menschen Aufrufen zu Protesten gefolgt. Unter hohem Polizeiaufgebot demonstrierten sie etwa vor der Istanbuler Stadtverwaltung und dem Polizeipräsidium. Die Menge forderte Erdoğan zum Rücktritt auf und warf ihm vor, durch die Festnahme seinen größten Rivalen ausschalten zu wollen. Am Rande der Proteste kam es laut Medien in Istanbul zu Ausschreitungen und Festnahmen.

Auch in Ankara wurde dem Sender Halk TV zufolge protestiert. An der dortigen ODTÜ-Universität kam es demnach zu Zusammenstößen zwischen Studierenden und der Polizei. Dabei sollen Demonstrierende in Gewahrsam genommen worden sein.

Soziale Netzwerke sind in der Türkei offenbar weiterhin langsam und teils nicht abrufbar. Viele der Bandbreitendrosselungen für Plattformen wie YouTube, Instagram und X halten an, wie der Cyberrechtsaktivist Yaman Akdeniz auf der Plattform X schrieb.

CHP will an Abstimmung festhalten

Die CHP will an der Wahl am Sonntag trotz der Festnahme Imamoğlus festhalten. Statt nur die Mitglieder fordert die Partei nun alle Menschen in der Türkei dazu auf, symbolisch für den 53-Jährigen abzustimmen. Neben jeder der etwa 4.000 landesweit aufgestellten Wahlboxen für die 1,7 Millionen Parteimitglieder würden zusätzlich symbolisch "Solidaritätswahlboxen" aufgestellt, teilte die sozialdemokratische Partei mit. 

Die auf türkische Politik spezialisierte Expertin Hürcan Aslı Aksoy sagte tagesschau.de, die Regierung habe mit der Festnahme verhindern wollen, dass Imamoğlu gewählt werde. Es sei das erste Mal in der Geschichte, dass die türkische Regierung sogar parteiinterne Wahlen verhindere. "Es ist ein Schritt zum vollen Autoritarismus. Es ist eine Art des zivilen Coups." Die Regierung in Ankara wisse ganz genau, dass derzeit weder von der EU noch von den USA ernstzunehmende Reaktionen auf das innenpolitische Vorgehen zu befürchten seien.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 20. März 2025 um 16:00 Uhr.